Bei dir ist es besser als bei mir



Der Wind hat mir eine Geschichte erzählt. Unter der Laterne, inmitten des Mantels aus verarbeiteten, uniform gebogenem Eisen, finden sich die isolierten Kupferdrähte, enden in einer Lüsterklemme und dort sitzt er, sich gemütlich eingerichtet und immer fetter werdend:

Der Elektrolurch.

Einst eine unbestimmte Menge, variabel, je nach angelegter Spannung. Eine Menge aus Elektronen, deren Position dem einzelnen Elementar selbst nicht klar ist und die für einen fiktiven außenstehenden Beobachter eine nahezu gespenstische Wirkung haben.

So ist der Schritt nicht weit. Die Menge Elektronen, gerade die rebellischen, die aufmüpfigen, die nicht konformen, denen es sowas gegen den Strich geht, abhängig zu sein von einem äußeren Einfluss. Um die geht es hier.

Eine Teilmenge also, getragen vom Wind, der Feuchtigkeit und der Wärme, entscheiden sich, spontan oder von außen getrieben, wer weiß das schon, eine Gemeinschaft einzugehen.

Sie verbinden sich, raffen Protonen und Neutronen unter ihre Ägide. Das so erschaffene Wesen, auf Basis einer fast gespenstischen Wirkung, ist sozusagen die Künstliche Intelligenz ohne letzteres, aber nicht einmal künstlich geschaffen, denn wie der Entstehungsprozess sich wirklich gestaltet, das bleibt in der Unschärfe verborgen. Auch wenn sich der Elektrolurch nicht zu einer Singularität ausweitet, bleibt die Information in seinem Innern, oder auch an völlig anderer Stelle, verborgen und verwehrt jegliche Aufklärung.

Doch Entstehungsgeschichten sind das eine. Blicke zurück beliebt und besitzen die Neigung, sich selbst zu genügen und dabei das Jetzt und die weitere Entwicklung aus dem Blick zu verlieren.

Hat ein Elektrolurch denn überhaupt ein Blick? Wie oder was sind seine Augen? Kann er überhaupt Information verarbeiten bzw. ist die Güte dieser Informationsverarbeitung konkret?

Verlassen wir diese unbequemen Fragen und verfolgen den Weg, den der Elektrolurch aus der Lüsterklemme nimmt. Die Stelle ist schlecht isoliert, er surft auf einem Tropfen Flüssigkeit gen Freiheit, das ist in diesem speziellen Fall der Boden. Dort vereint sich der Tropfen Flüssigkeit mit vielen weiteren Tropfen Flüssigkeit zu einer gewaltigen Pfütze. Diese Pfütze hat in ihrer Gesamtheit nicht lange bestand, denn Teile von ihr werden hochgewirbelt durch einen kräftigen und erbarmungslosen Tritt in das kühle Nass.

Der Tropfen, und mit ihm der Elektrolurch, fliegt wie ein spukender Reiter durch die Nacht. Die feuchte Luft nimmt ihn auf, der Elektrolurch erklimmt immer höhere Potentiale, hoch und höher, landet auf einer schwarzen Locke und rinnt unspektakulär runter, in den offenen Mund mit vollen Lippen. Ein Mund, der kräftig nach Atem schnappt, da der Träger des Mundes im vollen Lauf ist, um dem stärker werdenden Unwetter zu entgehen.

Der Elektrolurch springt wagemutig durch den dunklen Schlund, den der Mund bildet, eine Versuchung, der er niemals widerstehen kann. Er jagt todesmutig die Röhre hinunter, folgt dem verschlungenen Weg durch säurestarrende Bereiche, durch Windungen, die alles durcheinanderwirbeln und das Unterste nach oben und umgekehrt kehren. Der Elektrolurch diffundiert und nährt sich, geht gleichsam eine Symbiose ein wie eine Assimilation.

Der Elektrolurch ist der Mensch und gleichzeitig der Elektrolurch. Der Mensch ist gleichzeitig der Elektrolurch und der Mensch. Mutation.

Bei dir ist es besser als bei mir, sprechen sie sich Mut zu, bevor die Zweisamkeit erlischt und die rebellischen Elektronen und damit der Elektrolurch mit seinem neuen Träger verschmilzt und zu einem neuen Wesen fusioniert: 

Dem Elektromann.



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