Felix Woitkowski (Interview)
Michael Schmidt: Hallo Felix, stell dich den Lesern von
Zwielicht doch mal vor!
Felix Woitkowski: Hallo Michael, gerne. Ich wurde 1985 in
Soest im tiefsten Westfalen geboren, von dort ging es zu einem geistes- und
gesellschaftswissenschaftlichen Studium für ein paar Jahre nach Münster und
mittlerweile hat es mich nach Kassel verschlagen. Dort zeige ich angehenden
Lehrerinnen und Lehrern, wie sie Kindern das Schreiben in all seinen Facetten
beibringen können, und unterstütze Studierende beim Verfassen ihrer
schriftlichen Arbeiten. Vor über zehn Jahren hat mich die Welt der Literatur
gepackt und lässt mich seitdem nicht mehr los. Deshalb verbringe ich auch einen
Großteil meiner Freizeit mit wunderbaren, manchmal stressigen Aufgaben: Ich
schreibe Kurzgeschichten und Romane, gebe Anthologien heraus, organisiere den
Nachwuchswettbewerb Storyolympiade,
mache fast vergessene Klassiker einem neuen Publikum zugänglich, habe einer
Gruppe Studierender dabei unterstützt, ein Theaterstück zu verfassen und auf
eine Münsteraner Bühne zu bringen, helfe als Lektor und Korrektor aus, verfasse
hin und wieder Rezensionen … und weiß gerade gar nicht so recht, wie ich das in
den letzten Jahren alles unter einen Hut bekommen habe.
Michael Schmidt: Auf dem Bucon konnte ich dein Buch Rattensang in Empfang nehmen. Ein
feines, wenn auch schmales Büchlein. Wovon handelt es?
Felix Woitkowski: Rattensang
entführt Leserinnen und Leser in eine phantastische Version des Wilden
Westens. Eine Gruppe Quäker wird dort, kaum dass sie sich in Frieden
niedergelassen hat, jede Nacht von einer Horde Ratten heimgesucht. Die Tiere
kommen in Scharen, nagen an den Holzhütten und es ist nur eine Frage der Zeit,
wann sie zu den Bewohnern durchdringen. Ein Mann kommt ihnen zur Hilfe, doch
statt eines Revolvers trägt er nur eine Mundharmonika bei sich und seine
Absichten bleiben ungewiss …
Michael Schmidt: Die Geschichte von Rattensang und seiner Geburt ist ein wenig verschlungen, so kam es
mir gerüchteweise zu Ohren. Berichte doch mal!
Felix Woitkowski: Rattensang
war zu Anfang als Kurzgeschichte für eine Anthologie mit phantastischen
Western-Kurzgeschichten gedacht. Leider wurde Der Rattenfänger, wie die Geschichte damals noch hieß, nicht mit
aufgenommen. Das hat mich damals ziemlich gewurmt und nicht ruhig schlafen
lassen. Jetzt erst recht, dachte ich, arbeitete das Konzept für einen gleichnamigen
Heftroman aus und wurde mit einem Verlag, mit dem ich bereits
zusammengearbeitet hatte, schnell einig. Der Text wuchs schnell und aus einem
geplanten Heftroman wurden bald zwei. Leider kam es zu Veränderungen im Verlag
und der Veröffentlichungspraxis und Der
Rattenfänger verschwand plötzlich wieder in der Schublade. Auf der Suche neuen
Partner wurde ich schließlich bei Michael Haitel und seinem Verlag p.machinery
vorstellig, erhielt die Zusage, doch auch dort dauerte es über zwei Jahre, bis Rattensang, nun mit dem neuen,
treffenderen Titel, erscheinen konnte. Einen vergleichbaren Weg hat noch kein
anderer Text von mir hinter sich und es gab immer wieder Momente, an denen ich
nicht mehr richtig an das Projekt glauben wollte. Als ich den Roman aber im
Sommer im Rahmen des Lektorats wieder las, war ich deshalb umso froher, dass sich
alles richtig anfühlte.
Michael Schmidt: Das Buch hat zwei Teile, Ratten und Kinder. Warum und wird es einen weiteren geben?
Die Zweiteilung hat ihren Ursprung zum einen in der
Entstehungsgeschichte, zum anderen in der Vorlage. Wie ich eben schilderte,
schrieb ich zunächst nur den ersten Teil. Damit war Rattensang aber nicht vollständig und rund. Als mir das bewusst
wurde, habe ich mich an die Fortsetzung gemacht. Zugleich ist die
offensichtliche Vorlage für Rattensang ebenfalls zweigeteilt. Auch dort kommt der
Rattenfänger zweimal nach Hameln. Wie der Rattenfänger
von Hameln ist aber auch Rattensang
ein zusammenhängendes Werk. Der eine Teil bedingt den anderen. Das gilt in
beide Richtungen.
Ob ich noch einmal in die Welt des Rattensangs zurückkehren werde, kann ich heute nicht abschließend
sagen. Ich eröffne in dem Roman ein Universum, das viele Geschichten bereit
halten könnte, die wieder in Nordamerika, aber auch in Europa spielen könnten.
Vor allem mit Blick auf das alte Europa, seine Geschichten und Sagen, die im
Roman immer wieder anklingen, habe ich ein paar wenige Ideen, aus denen sich
mehr machen ließe. Aktuell ist aber nichts in dieser der Hinsicht geplant.
Michael Schmidt: Die Geschichte hebt sich ein wenig ab vom
Schema „Mann kommt in die Stadt und ist der strahlende Retter“. Die Idee ist
eher gediegen und zeigt doch einiges an Raffinesse in der Umsetzung. Liebst du
etwas aus dem Rahmen fallende Literatur und hatte die Geschichte auch
Vorbilder?
Felix Woitkowski:Ich lege unglaublich gerne Spuren in meine Texte, den man
folgen kann, aber nicht muss, und bin selbst froh, dass ich die meisten bald
wieder vergessene. In den Rattensang ist manches davon recht offensichtlich geflossen. Der Roman ist eine Verneigung vor deutschen Sagen (Der
Rattenfänger von Hameln), amerikanischen Mythen (Hopi-Indianer), der
phantastischen Literatur der Romantik (Isabella von Ägypten) und des
Westernkinos (Spiel mir das Lied vom Tod). Das ist noch nicht alles, aber es
geht mir nicht darum, zur Interpretation und Inspirationssuche anzustacheln.
Meine Geschichten sollen auch ohne das Wissen darüber, ohne Deutschaufsatz,
funktionieren und Spaß machen.
Trotzdem mache ich mir
nichts vor. Was ich im Moment schreibe und veröffentliche, taugt in der Regel
nicht für Bestsellerlisten. Weil ich aber abseits des Marktes und
Buch-Konsum-Tempel schaffen darf, nehme ich mir den Luxus heraus, das zu
schreiben, was ich selbst gerne lesen würde, Literatur, die eigenwillige Wege
geht, (und beneide zugleich und insgeheim Autorinnen und Autoren, denen es
scheinbar spielerisch gelingt, über viele Jahre hinweg ein großes Publikum zu
begeistern).
Michael Schmidt: Das ist der zweite Einzelband von dir. Die Wanderdüne erschien 2011 im Wunderwaldverlag. Warum sollte man die lesen (es
gab ja einige enthusiastische Rückmeldungen) und kann man den Roman noch
beziehen?
Felix Woitkowski: Die Wanderdüne habe ich im vergangenen Sommer im Selbstverlag neu veröffentlicht.
Es handelt sich dabei um mein Debüt, um einen phantastischen, surrealistischen
Episodenroman, in dem unglaublich viel Herzblut liegt. Er ist, wohl wie jedes
Debüt, voller Ecken und Kanten, voller Wut und Hoffnung, voller drängender Ideen
und unaufgelöster Widersprüche. Die Wanderdüne ist viel experimenteller als Rattensang
und, wie ich finde, ein im besten Sinne unbefriedigender Roman. Er erzählt aus
der Perspektive von drei Bewohnern die Geschichte einer Stadt, die von einer
Düne in rasender Geschwindigkeit heimgesucht wird und sich ab diesem Zeitpunkt
scheinbar stetig verändert, eines Ortes, der keine Vergangenheit und keine
Zukunft zu haben scheint und in dem jeder, der über die Absonderlichkeiten
nachdenkt, selbst als absonderlich gilt. Viel mehr noch als Rattensang ist Die Wanderdüne ein Roman, der aus dem Rahmen fällt, und deshalb
gerade für diejenigen interessant, die abseits ausgetretener Genre-Pfade lesen
und wandeln wollen.
Michael Schmidt: 2019 soll ja noch ein Projekt aus deiner
Feder erscheinen. Das ist ja eine wirklich langfristige Planung. Kannst du dazu
schon was sagen?
Felix Woitkowski: Oh, hätte ich doch nur noch nichts gesagt
… Ich wurde überraschend von einem begeisterten Leser meiner Wanderdüne gefragt, ob ich bei ihm
Anfang 2019 einen Roman oder eine Kurzgeschichtensammlung veröffentlichen
möchte. Das Angebot habe ich dankend angenommen, grüble seitdem viel über einen
neuen Romanstoff und möchte ansonsten noch nicht mehr erzählen. Wie du selbst
sagst: Es ist eine wirklich langfristige Planung.
Michael Schmidt: Für Zwielicht Classic 4 hast du den
Freischütz von August Apel aus dem Dämmerlicht
gezogen und digitalisiert sowie mit einem Vorwort garniert. Weitere
Geschichten von Friedrich Laun kamen dann in Zwielicht Classic 5+6. Jetzt soll
das gesamte Gespensterbuch das Licht der Welt erblicken. Erzähl doch mal von
dem ganzen Projekt, seit seinen Anfängen bis zur Ausgabe, die, wenn ich richtig
informiert bin, nächstes Jahr erscheinen soll.
Felix Woitkowski: Nach meinem Studium habe ich begonnen,
fast vergessene Klassiker der phantastischen und utopischen Literatur zu
digitalisieren und als eBooks unter dem Label „Edition Murr“ neu aufzulegen.
Darunter findet sich beispielsweise auch Rossums
Universal Roboter, das Theaterstück, in dem das Wort Roboter geprägt und in
der Welt verbreitet wurde. Ein Leser meines ersten eBooks machte mich auf das Gespensterbuch aufmerksam. Dabei handelt
es sich um eine Sammlung phantastischer und schauriger Geschichten aus dem 19. Jahrhundert.
Die populärste Geschichte daraus ist wahrscheinlich Der Freischütz, die als Grundlage für die gleichnamige Oper diente.
Die siebenteilige Reihe Gespensterbuch
(1810-1817) war bei Erscheinen ein echter Renner, wurde ins europäische Ausland
verkauft, übersetzt und hat zum Beispiel einen nennenswerten Einfluss auf die
Entstehung von Mary Shelleys Frankenstein
gehabt. Als ich die ersten Geschichten las, war ich regelrecht begeistert
und machte mich bald an die Aufbereitung für das eBook. Kurz nach Erscheinen
sprach mich der Autor Markus K. Korb an, warb für eine vollständige Neuauflage
auch als gedrucktes Buch und brachte mich vor etwa zwei Jahren mit dem
Blitz-Verlag ins Gespräch. Wir wurden uns bald einig und sind jetzt so weit,
dass wir die Klappentexte schreiben, Cover designen lassen und einen
Erscheinungstermin im Laufe des kommenden halben Jahres anvisieren können. Die
Arbeiten am Text selbst sind abgeschlossen, Begleittexte von Markus K. Korb,
der Literaturwissenschaftlerin Urania Milevski und mir liegen vor, weit über
100 ergänzende Fußnoten sind hinzu gekommen und der ersten vollständigen,
dreibändigen Neuauflage steht nichts mehr im Wege. Das Gespensterbuch mag zwei Jahrhunderte alt sein, aber es ist ein
unglaublich vielfältiges, phantastisches und auch heute noch schauriges Zeugnis
der Anfänge der deutschsprachigen Horrorliteratur. Deshalb freue ich mich
ungemein, dass dieses Projekt bald einen Abschluss und hoffentlich eine neue
Leserschaft finden wird.
Michael Schmidt: Gibt es weitere Geschichten aus deiner
Feder und hast du den ein oder anderen Liebling?
Felix Woitkowski: Es erscheinen immer wieder neue
Geschichten aus meiner Feder. Einen Überblick darüber gibt es auf meiner
Homepage http://felixwoitkowski.wordpress.com/.
Aktuell sind meine ersten beiden von H. P. Lovecraft inspirierten Geschichten
erschienen. Der Kerzenzieher (Ulthar.Ein Reiseführer, Basilisk Verlag) erzählt von einem Mann, der um jeden Preis
versucht, aus seinem Leben, das für einen Traum hält, aufzuwachen. Tod dem König in Gelb (Verbotene Bücher,
Verlag Torsten Low) hingegen wirft die Hauptfigur durch die Lektüre eines
Buches in eine phantastische, groteske Traumwelt, in der sie den Auftrag
erhält, den mythischen König in Gelb zu töten.
Michael Schmidt: Wenn ich mich recht ersinne bist du auch
schon als Herausgeber angetreten. Was ist der Unterschied zum schreiben und
warum sollte man gerade die von dir herausgegebenen Anthologien auswählen?
Felix Woitkowski: Der Unterschied ist ein wesentlicher:
Autoren schreiben, Herausgeber wählen aus, polieren und verpacken. Wenn beide
zusammen wirken, können wunderbare Ideen zu einzigartigen Büchern werden und
ihren Weg zu Leserinnen und Leser finden, und an diesem Prozess reizen mich
einfach beide Perspektiven. Gemeinsam mit Martin Witzgall gebe ich deshalb alle
zwei Jahre die Siegeranthologie der Storyolympiade heraus. Aktuell geht gerade
eine neue Runde dieses Nachwuchswettbewerbs zu Ende. Der letzte Siegerband (Verlag
Torsten Low) hatte Stille als Thema
und versammelt immer wieder überraschend unverbrauchte und aufregende
Geschichten. Ein wenig länger schon ist meine Anthologie The End (p.machinery) erschienen. Darin finden Ungeduldige die
Schlusskapitel von elf Romanen, die niemals geschrieben wurden. Wer keine Zeit
hat, sich durch dicke Wälzer zu arbeiten, findet dort den richten Abschluss.
Michael Schmidt: Was schreibst du gerade bzw. was wird
demnächst von dir erscheinen?
Felix Woitkowski: Eine Kurzgeschichte, in der ich meine ganz
eigene Variante des Turmbaus zu Babel erzähle, soll dieses Jahr noch
erscheinen, eine andere entsteht gerade. Gemeinsam mit einem Freund trage ich
nach und nach alles Wissen zusammen, dass nach dem Untergang unserer Gesellschaft
noch übrig geblieben sein wird, warte auf den Startschuss für ein neues von
Lovecraft inspiriertes Projekt, sammle Romanideen und kann mich, weil ich kein
Viel- oder Schnellschreiber bin, über Langeweile einfach nicht beklagen.
Michael Schmidt: Die Horror- und Phantastikszene lebt, auch
und gerade in Deutschland. Wenn du jemanden da draußen ein paar Empfehlungen
mit auf den Weg geben müsstest, die wären da…
Felix Woitkowski: Ich finde es großartig, was Jörg Kleudgen
mit seiner Goblin Press und Eric Hantsch mit seiner Edition CL auf die Beine
stellen. Dort finden sich abseits des Mainstreams handverlesene Werke der
deutschsprachigen phantastischen und gruseligen Literatur. Der Autorenverbund
Geschichtenweber stellt seit Jahren einzigartige Kurzgeschichtenprojekte auf
die Beine, die einfach mehr Aufmerksamkeit verdienen. Und kleine Verlage wie
Luzifer, Golkonda, Torsten Low und Lindenstruth bieten durchweg tollen
Lesestoff für Fans der phantastischen Literatur bereit. Gerade abseits der
großen Publikumsverlage und Buchhandelsketten gibt es viel zu entdecken und ich
kann nur jedem raten, sich dort auf die Suche zu machen.
Michael Schmidt: Ein Wort noch an die Leute dort draußen!
Felix Woitkowski: Lest mehr Bücher, denn es gibt nur wenig Schöneres. Und wenn
ihr Bücher lest und unsere Leidenschaft teilt, dann sprecht darüber und lasst
uns Buchschaffende wissen, wie sie euch gefallen. Dann wissen wir, wofür wir
das alles tun, und verschaffen euch um so lieber auch in Zukunft spannende
Lesestunden.
Vielen Dank für dieses Interview, Michael.
Michael Schmidt: Ich habe zu danken!
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