Malte S. Sembten - Blind Date (1997) Leseprobe

Malte S. Sembten - Blind Date (1997)


„Gestatten: Sweet. Valeska Sweet, Sir.“
In den ersten Sekunden waren die Ohren von Krato Orville Wainewright taub für die Stimme der Sprecherin und ihre Worte. Er bestand nur noch aus Augen. Mit bebrillten Blicken verschlang er den Körper der Frau, die die berühmtesten Männer verführt hatte: Sokrates und Dschingis Khan, den heiligen Augustinus und Vlad Dracul, Rasputin und Freddie Mercury, Ruhollah Chomeini und Steve Jobs, Mark Zuckerberg und Romuald Thorne … um nur einige zu nennen. Wainewright ging nicht so weit, sie mit Blicken auszuziehen. Er hatte ein lebhaftes Vorstellungsvermögen und wollte keinen Herzanfall riskieren.

K. O. Wainewright war froh, den riesigen Kommando-schreibtisch, von dem aus er das Imperium der Reborn Immortals Corporation kontrollierte, zwischen sich und Valeska Sweet zu wissen, die im Besuchersessel Platz genommen hatte und in diesem Augenblick ihre höhenkollerverdächtigen Beine übereinander schlug. Er hoffte nur, dass der Schreibtisch seinen plötzlich eng gewordenen Hosenschritt vor ihr verbarg. Valeskas Beine waren von der streng geschnittenen Uniformhose umhüllt. Doch schmiegten sich die Bügelfalten provozierend stramm an ihre perfekt geformten Schenkel. Eine Flut kupferblonder Haare umspielte den hochgeschlossenen Kragen ihres Uniform-Oberteils. Die maskulinen Schulterpolster der Jacke kontrastierten mit der Wölbung von Valeskas Brüsten, die gegen die Enge des Stoffgefängnisses aufbegehrten. Der eng geschlossene Gürtel betonte den Wespenumfang ihrer Taille.
Valeskas Atem schien die klimatisierte Zimmeratmosphäre in eine feucht-schwüle Hochdruckzone zu verwandeln, das Blut in ihren vollen Lippen Gluthitze auszuströmen und ihre Augen Wainewrights Blutkreislauf zu unterwerfen wie Monde die Gezeiten. Ihre Stimme verursachte ihm eine warme Gänsehaut. Am liebsten hätte Wainewright seinen klammen Hemdkragen aufgeknöpft. Stattdessen lockerte er nur unauf¬fällig den erstickenden Knoten seiner Krawatte. Dieses Geschöpf war ein Danäer-Geschenk der Natur an die Männer – oder eher ein Geschenk von Krato Orville Wainewright, denn er selbst war der Erfinder des gentechnischen Zuchtverfahrens, das Valeska Sweet und ihre Schwestern hervorgebracht hatte.
Und er war ebenso der Leiter des Succubus-Programmes, des Hauptgeschäftszweigs der von ihm geleiteten RI-Corporation. Das vor fast fünfzig Jahren von einer Forschergruppe der RIC-Muttergesellschaft unter Leitung des legendären Romuald Thorne entdeckte Extensionsaxiom des Zeit Paradoxons, das die Retro-Zeitreise möglich machte, hatte die Grundlage dazu geschaffen.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten sich Frauen, deren mütterlicher Ehrgeiz nach ›Wunderkindern‹ strebte, bei kommerziellen Samenbanken mit dem Erbgut anonymer Spender aus der physischen und intellektuellen Elite der männlichen Bevölkerung befruchten lassen. Im Jahre 2015 hatte ein geschäftstüchtiger Biochemiker die Idee ver¬wirklicht, sich das Erbmaterial herausragender Zeitgenossen – Olympiasieger, Feldherren, Filmstars, Nobelpreisträger – lizensieren zu lassen und es meistbietend an die Möchtegern-Mütter-von-Genies zu verkaufen. Eine Generation später hatte die RI-Corporation die Branche revolutioniert, indem sie den reichsten Frauen der Gegenwart die Möglichkeit bot, von den größten Männern aller Zeiten Kinder zu bekommen.
Natürlich war es undenkbar, die Kundinnen persönlich mit ihren Befruchtern zusammenzuführen. Reisen in die Ver-gangenheit waren delikate Unternehmungen und durften nur von hochgradig qualifiziertem Personal geplant und ver¬wirklicht werden. Nur so ließ sich gewährleisten, dass der Lauf der Geschichte unbeeinflusst blieb und die Gegenwart so, wie man sie kannte.
Aus diesem Grund schickte man Spezialagentinnen wie Valeska Sweet an die Front: so genannte Succubi, ausgestattet mit den Körpern gefallener Engel und versiert in den raffiniertesten Künsten der fleischlichen Sünde. Sie verführten die Zielpersonen in deren jeweiliger Epoche, sammelten ihren Samen und expedierten ihn in die Gegenwart, wo die Labore der RI-Corporation die Umbefruchtung vornahmen. Für die Verführten durfte die Begegnung mit den Succubi nur ein wunderbarer feuchter Traum bleiben, ein überirdisches Erlebnis ohne tatsächliche Auswirkung auf ihr Leben oder ihre Welt.




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