Segmentfäule - Leseprobe
Im März erschienen ist die Anthologie Strandgut im Hirnkost Verlag. Im SF Netzwerk fand ein Lesezirkel statt.
Entdeckungen
Marek wanderte tief in das Ödland hinein und es wurde mit jedem Schritt ekelhafter. Dunkle Stellen,
wohin er sah, und in der Luft hing ein übler Gestank, der seine Nase
beleidigte. Nur mit Mühe unterdrückte er ein Würgen. Gerade betrat er eine
kleine Höhle; von der Decke hingen fingerdicke Fäden, die einen besonders
beißenden Gestank verströmten.
Bisher hatte er gezweifelt, ob es sich bei der Blase
um ein Gebilde natürlichen oder künstlichen Ursprungs handelte. Gerüchte gab es
viele, doch die meisten hatte er ins Reich der Fabel verwiesen. Doch jetzt war
er sich sicher: Die Blase war organisch, und der Bereich, in dem er herumkroch,
krank. Oder starb ab.
Wenn dieser Bereich starb, was würde das für die
komplette Blase bedeuten? Würde sich die Fäule ausbreiten und andere Segmente
anstecken?
Die Vorstellung, ihre Welt könne sterben, war so
ungeheuerlich, dass es ihn eiskalt schüttelte. Nun, er wusste nicht, ob er
daran glauben sollte, aber der fortschreitende Verfall ließ sich einfach nicht
leugnen. Er musste unbedingt Janus nach seiner Rückkehr informieren. Mit
gebotener Vorsicht und einer gehörigen Portion Ekel versuchte er, sich durch
die Fäden zu schlängeln, ohne sie zu berühren. Natürlich misslang das.
Wie eine kalte, tote Hand fühlten sich die Fäden an,
und so eilte er weiter, nur, um noch häufiger mit ihnen in Kontakt zu kommen.
Das sorgte dafür, dass er seine Schritte beschleunigte. Ein Teufelskreis.
Schauer durchfuhren ihn und er wünschte, er hätte beizeiten kehrtgemacht. Doch
sein Pflichtbewusstsein verbot ein Zurück. Am Schluss rannte er das letzte
Stück, während er sich vor Abscheu schüttelte.
Endlich hatte er das Segment durchquert und stand vor
dem nächsten, zögernd und in banger Erwartung.
Ein erster vorsichtiger Schritt und er versank in
einer zähen und schleimigen Masse, die ihn fest umschloss. Unwillkürlich wich
er zurück und zog seinen Fuß nur mit Mühe aus dem Sumpf heraus. Er spielte mit
dem Gedanken, umzukehren, doch allein die Vorstellung, nochmals den Saal der
toten Hände, so nannte er den Fadenraum in Gedanken, zu durchqueren, verdrängte
den Ekel vor dem merkwürdigen Morast, der vor ihm lag.
Skeptisch blickte er nach vorne. Dieses Segment war
kurz, nur wenige Meter. Marek, das
schaffst du, sprach er sich Mut zu und tat den nächsten Schritt. Noch
tiefer als beim ersten Mal sank er ein, noch schleimiger erschien ihm der
Boden. Er hatte das Gefühl, als würden Tausende kleine Zähne nach ihm greifen.
Zähne, die zwar stumpf, aber trotzdem sehr hungrig an ihm nagten.
Er gab sich einen Ruck und ging weiter, die Bilder
verdrängend, die ihm durch den Kopf gingen. Bilder von gierigen kleinen
Mäulern.
Recherche
»Und
Marek, mein Scout, fand trotz aller Mühen zurück. Ich habe ihn sofort damit
beauftragt, das Segment auszumachen, das von der Fäule betroffen ist. Wie weit
es geht und auch, wie schnell es sich ausbreitet. Doch was kann ein Mann allein
schon erreichen?«, fragte Baumeister Janus den Rat, dem er Mareks Berichte
vortrug.
Er sah in die Runde. Eine Mischung aus Langeweile,
Unglauben und Widerwillen blickte ihm entgegen. Die Langeweile dominierte
eindeutig. Er seufzte.
»Wir müssen alles Menschenmögliche tun, um
herauszufinden, was unsere Welt zerstört. Wir müssen wissen, woher die Krankheit
kommt, bevor es unsere Heimat vollkommen verschlingt und sie unwiderruflich
zerstört. Hat irgendeiner von euch eine Ahnung, ob Vesika, unsere liebe Heimat,
in vergangener Zeit schon einmal heimgesucht wurde? Welche Ursachen es haben
könnte und wie es zu stoppen ist? Wir müssen die Lexeten besuchen und können
nur hoffen, dass sie Antworten liefern.«
»Aufzeichnungen? Verehrter Janus. Du weißt genau, in
unserer Wissensburg herrscht vollkommenes Chaos und noch nie hat dort jemand
etwas Sinnstiftendes gefunden. Wer soll sich durch den Wust kämpfen? Die
Indexten werden immer merkwürdiger, und ich fürchte, sie sind von der Fäule
mehr betroffen als die Segmente. Dort scheint mir die große Gefahr zu lauern.
Der unwiederbringliche Wissensverlust droht. Wer von euch möchte diese Aufgabe
übernehmen, die Janus, unser allwürdiger Baumeister, hier angedacht hat?«
Rat Jeremias sah in die Runde und erhielt Ablehnung
von allen Seiten.
»Siehst du!«, triumphierte Jeremias. »Niemand möchte
das tun. Niemand kommt zu den gleichen Schlüssen wie du. Die Blase verändert
sich. Ja und? Hat sie das nicht schon immer?«
Eine Pause, die Räte sprachen wild durcheinander, dann
hob Jeremias die Hand.
»Einigen wir uns doch auf folgendes Szenario. Du
untersuchst diese Segmentfäule. Dein Assistent Marek unterstützt dich, und wenn
ihr auf wirklich konkrete Ergebnisse gekommen seid, erscheinst du auf einer
Sitzung und wir beratschlagen, wie wir mit dieser Thematik weiter vorgehen
werden. Für heute sollten wir uns mit diesem Umstand lange genug beschäftigt
haben. Zum nächsten Punkt …«
Janus wartete die weitere Rede gar nicht erst ab.
Diese Ignoranten!
Mit hochrotem Kopf stürmte er aus dem Sitzungssaal. Er
musste schnell hier raus. Sonst würde er sich vergessen. In ihm flammte eine
unbezähmbare Wut. Abgekanzelt von diesem unfähigen Rat, der die drohende Gefahr
nicht sah, selbst wenn man ihn mit der Nase draufstieß.
Er rauschte durch die Gänge, seine Umgebung
ignorierend, und erreichte die Wissensburg, das Blut immer noch in Wallung.
Sein Herz klopfte wie wild, und wenn er an Jeremias dachte, würde er am
liebsten …
Wo war seine Melancholie geblieben?
Seit Wochen trug er schwer an seinen Gefühlen, quälte
sich tagtäglich aus dem Bett und verbrachte den Tag in grauem und eintönigem
Zwielicht. Nur Marek steckte ihn hin und wieder mit seiner Unternehmungslust
an. Doch auch dieses Licht flackerte nur kurz und wurde immer wieder aufs Neue
von tiefer Schwärze verdrängt. Seit Merina von ihm gegangen war, hatte er seine
Freude verloren, seinen Mut und seinen Optimismus.
Jetzt aber war dieses ewige Grau verschwunden und wich
einer Wut, zu der er sich gar nicht mehr fähig gefühlt hatte. Eine Wut, die ihn
mit Leben erfüllte und wie eine heiße Quelle antrieb.
Er betrat die Wissensburg, orientierte sich kurz und
steuerte sofort Gerek an. Die Lexeten waren so etwas wie das Inhaltsverzeichnis
der Burg. Die meisten von ihnen verhielten sich mehr oder minder sonderbar.
Gerek bildete da die große Ausnahme. Und voller Freude erkannte er, dass sein
alter Freund Zeit für ihn hatte.
»Liebster Gerek, ich habe hier ein diffiziles Problem.
Ich vermute, du bist der Einzige, der überhaupt in der Lage ist, mir
weiterzuhelfen ...«
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