Yvonne Tunnat (Interview)

Michael Schmidt: Hallo Yvonne, stell dich doch mal vor!


Yvonne Tunnat: Ich bin Yvonne, 1978 geboren, aus Niedersachen, zwischendurch lange Zeit in Berlin, inzwischen wohne ich nördlich von Kiel. Ich lese extrem viel, mit Schwerpunkt auf Science-Fiction.

Michael Schmidt: Rezensionsnerdista ist dein Alias und auch deine Homepage. Einerseits old-fashioned, andererseits modern. Äußerlich wirkt die Seite doch traditionell, aber du hast eine coole Mischung. Podcast, Rezensionen, Autorentipps. Stell uns deine Seite doch mal vor. Wie kam es zu Rezensionsnerdista und wie hat sich die Seite im Laufe der Zeit gewandelt?

Yvonne Tunnat: Nach einer längeren Pause, bedingt durch Karrierestart und Familienplanung, habe ich 2020 wieder mit dem Schreiben von Prosa begonnen. Die akribische Wissenschaftlerin in mir hat vorab recherchiert, dass man als Autorin heutzutage nicht mehr einfach sein Manuskript beim Verlag abgibt und diesem dann den Rest überlässt, sondern selbst in den sozialen Medien aktiv wird und sich eine Fanbase aufbaut.

Außerdem bin ich Kurzgeschichtenautorin und war zunächst nicht mehr up-to-date, wo man diese heutzutage unterbringt. Um erstmal Reichweite zu schaffen, habe ich dann einen Rezensionsblog erstellt, mit dem ich bei Twitter und Co. losgestiefelt bin. So konnte ich mich mit anderen über Literatur austauschen und habe die deutschsprachige Phantastik-Szene kennengelernt. Rezensieren hilft mir auch beim Besserwerden. Ich verstehe mehr, was ich gern lese und wie ich auch selbst gern schreiben können möchte. Außerdem habe ich mir durch die Rezensionen einen Namen gemacht und habe einen guten Überblick, wo man Kurzgeschichten einreichen kann (und wo lieber nicht) und welche Verlage sich in Deutschland mit SF befassen.

Die Podcasts sind eher zufällig dazugekommen diese bieten noch mal die Chance, sich mit ausgewählten Themen tiefer auseinanderzusetzen.

Michael Schmidt: Literatunnat ist eine Podcast-Interviewreihe und du gibst da den verschiedensten Protagonisten Platz, sich mit dir rund eine Stunde über Literatur zu unterhalten. Wie läuft das ab?

Yvonne Tunnat: Normalerweise überlege ich mir, mit wem ich gern sprechen möchte, und frage die Personen dann, ob sie Lust haben.

Oder ich habe ein Thema, über das ich gern sprechen möchte, und überlege mir, wer dazu passt. Auffällig ist, dass ich bisher keine Leute eingeladen habe, die miteinander hätten kontrovers diskutieren können. Das kommt vielleicht noch.

Leider haben mir auch schon zwei Personen abgesagt, wenn auch sehr höflich, mit denen ich gern gesprochen hätte, Franz Rottensteiner und Helmuth W. Mommers. Beide bewundere ich sehr, Rottensteiner vor allem aufgrund seiner herrlich bissigen und extrem fundierten Rezensionen und Mommers wegen seiner Visionen-Anthologien, die bis heute (vermutlich nie wieder erreichte) Maßstäbe gesetzt haben.

Ich erstelle einen groben Fahrplan für die Podcastfolge, selten mehr als fünf Punkte, das Meiste erfolgt spontan. Unter dreißig Minuten sollte man nicht sprechen, aber auch besser nicht länger als sechzig Minuten. Das klappt normalerweise sehr gut. Danach schneide ich ein wenig, lasse die Gäste testhören, dann wird veröffentlicht und beworben. Die beliebteste Folge (mit dem NOVA-Team) hat mehr als 130 Downloads. Leider ist meine Zielgruppe nicht allzu riesig.


Michael Schmidt: Hast du ein Highlight unter den bisherigen Literatunnat-Podcastfolgen?

Yvonne Tunnat: Ich habe dasselbe Highlight wie die Podcast-Hörenden: Die eben erwähnte Folge mit Marianne Labisch und Michael Iwoleit zum SF-Magazin NOVA. Da wurde auch einiges gesagt, das sehr klar zur Sache geht, was beispielsweise Möchtegernschrifstellende betrifft. Eine sehr unterhaltsame Folge mit vielen coolen Aussagen. (Folge 10)

Unterschätzt wird meiner Meinung nach die Folge mit Cathy Stefford und Magret Kindermann, da werden Themen wie Story-Auswahl und Lektorat auch sehr genial und unterhaltsam besprochen. (Folge 4)

Michael Schmidt: Dein Blog hat als Schwerpunkt deutschsprachige Science-Fiction. Rezensionen zu Anthologien eher unbekannterer Autoren bringen ja nicht immer nur Vorteile. Du bekommst da auch bestimmt viel negative Resonanz. Ehrlichkeit wird ja nicht immer gerne gesehen. Plaudere doch mal aus dem Nähkästchen.

Yvonne Tunnat: Bei Romanen rezensiere ich ja meistens die Werke, die ich gern gelesen habe. Die negative Resonanz kommt dann höchstens von Menschen, die ich nicht berücksichtigt habe.

Bei Anthologien habe ich aber schon mal etwas kontroverser rezensiert. Vor zwei Jahren, als ich noch nicht so viel Erfahrung hatte, habe ich mal offen zugegeben, dass ich eine Story nicht verstanden habe, und auch recht klar gesagt, dass ich einige andere Kurzgeschichten der Anthologie nicht sehr schätzte. Das hat mir einer der Autoren sehr übel genommen und einen vernichtenden Kommentar hinterlassen, den ich unkommentiert habe stehen lassen.

Ein anderer Herausgeber war sehr erbost über die Rezension zu seiner Anthologie, was zu mehreren Runden Nachspiel geführt hat, sich aber inzwischen hoffentlich erledigt hat.

Eine andere Herausgeberin war ebenfalls nicht froh und hat das auch in den sozialen Medien entsprechend kundgetan. Rückblickend denke ich, dass ich es bei dieser Anthologie nicht gut genug vermieden habe, Allgemeinplätze aus meiner Rezension herauszuhalten. Gerade bei kritischen Worten ist es wichtig, sehr nah am Text und gut nachvollziehbar zu begründen, was ich nicht mochte und warum. So ist es einfacher zu akzeptieren. Und auch fairer. Gerade bei Kritik ist es gut, wenn sie konstruktiv ist, sodass die schreibende Person damit etwas anfangen kann (wenn sie denn offen dafür ist) oder eben auch für sich entscheiden kann, dass meine Kritik mehr mit meinem Geschmack als mit ihrem Handwerk zu tun hat. Aber es ist auch sehr schwierig und zeitraubend, daher belasse ich es meistens bei der Rezension von Prosa, die mir auch zugesagt hat.

Andererseits reicht schweigen eben manchmal nicht. Für die Herausgebenden kann es auch interessant sein, was ich als Vielleserin als störend empfunden haben. In letzter Zeit habe ich daher oft unten bei Rezensionen von Anthologien einen Abschnitt namens „allgemeines Jammern“ angefügt. Dort kommen dann Aspekte hinein, die mir insgesamt negativ aufgefallen sind. Schönes Beispiel wären falsche Inquits (lachte sie, lächelte er, grinste sie, nickte er), die mir vor allem im Mainstream und bei Kinderliteratur auffallen (aber nicht nur). Oder eben Phrasen außerhalb von Dialogen. Oft sind es starke Storys, an denen nur Kleinigkeiten störten, die man durch ein aufmerksames Lektorat aber leicht bereinigen könnte.

Michael Schmidt: Trotzdem liegt dir die deutschsprachige Science-Fiction am Herzen und du bist da sehr engagiert, um die Kurzgeschichten, aber auch die Romane sichtbarer zu machen und den verschiedenen Künstlern Rückmeldung zu ihren Werken zu geben. Was treibt dich an?

Yvonne Tunnat: Ursprünglich war da nur der Gedanken: Ich schreibe Kurzgeschichten – wäre es dann nicht sinnvoll zu lesen, was es schon gibt und wie die anderen Autor:innen Kurzgeschichten verfassen? Ich habe auch stets, bevor ich etwas eingereicht habe, die entsprechenden Magazinausgaben gekauft und gelesen und oft auch rezensiert, gleiches galt für eventuelle Vorjahres-Anthologien. So wusste ich schon recht gut, was die Herausgebenden sich ungefähr vorstellen, und konnte die Flut der Absagen etwas in Grenzen halten.

Rezensionen sind ja für die Lesenden, nicht für die Autor:innen. Eigentlich jedenfalls. Wenn ich aber deutschsprachige Autor:innen aus der SF-Szene rezensiere, ist mir durchaus klar, dass die Leute ihre Rezensionen auch selbst lesen. Wenn ich daher etwas richtig übel finde, neige ich zum Schweigen. Sollte ich aber Werke ansprechend finden, mit einigen Einschränkungen, versuche ich, jene Kritikpunkte so gut wie möglich zu begründen. Das nutzt den Lesenden bei der Kaufentscheidung und ist auch den Autor:innen gegenüber fair, die dann beurteilen können, ob sie die Kritik nachvollziehen können oder schulterzuckend übergehen. Ich habe beispielsweise dem zweifachen DSFP-Romangewinner Sven Haupt gesagt, dass ich Schwierigkeiten mit dem unkonventionellen Aufbau seines Romans Die Stille zwischen den Sternen hatte. Da hat er nur gelacht und gesagt, dass das in voller Absicht geschehen sei. Übrigens ist sein neuer Roman, Wo die Nacht beginnt, wenigstens chronologisch, viel geholfen hat mir das aber auch nicht.


Wenn ich aber anderen Autor:innen mal direkt sage, dass ich zu viel Infodump in ihren Dialogen gefunden habe oder mich ihre Figuren nicht mitgenommen haben, höre ich eher selten, dass dies absichtlich geschehen sei. Weltenbau ist wichtig, gerade in der Science-Fiction. Das muss und sollte aber nicht durch Infodump geschehen, sondern kann mittels der Dialoge und der Action und detailreicher Beschreibungen erfolgen. Ein positives Beispiel wären die Romane von Tom Hillenbrand. Wir Lesenden werden beispielsweise bei Hologrammatica einfach in die Handlung geworfen und nach und nach machen wir uns von selbst ein Bild von der Welt, während wir dem erzählenden Ich folgen. Noch ein Wort zu Figuren: Man muss sie nicht unbedingt ausgiebig in Charakter und Aussehen beschreiben, zwei oder drei treffende Details können eine Figur im Nu authentisch und plastisch machen, den Rest füllen wir beim Lesen schon mit unserer eigenen Phantasie.

Michael Schmidt: Du hast ja einen guten Überblick der Veröffentlichungen dieses Jahres, bist Mitglied in der Jury für den DSFP, liest viel und rezensierst ebenfalls sehr viel. Wie sehen deine bisherigen Lesehöhepunkte der Science-Fiction 2022 aus?

Yvonne Tunnat: 2022 sind auffällig viele sehr gute Romane im SF-Bereich erschienen, so viele, dass ich keine Schwierigkeiten haben werde, meine Top-Ten zu füllen. Bei den Kurzgeschichten sieht es ein wenig schlechter aus als im Vorjahr, ich hatte das Gefühl, mich durch mehr Lückenfüller oder auch schlechte Geschichten wühlen zu müssen, um die Perlen zu finden und zu genießen. Das ist teilweise fast den Schweiß nicht wert!

Bei den Romanen hingegen habe ich die, die mir nicht zusagten, sofort abgebrochen, und einige herrliche gefunden, hier mal ein paar Highlights:

Neon grau von Aiki Mira - sprachlich auf der Höhe der Qualität von their Kurzgeschichten in Bestform, nah an den Figuren, cooler Weltenbau, Spannungsbogen ohne Ende, hat mir so gut gefallen, lese ich sofort ein zweites Mal!


Athos2643 von Nils Westerboer: Ein sehr sorgfältig komponierter Roman, den ich bereits zweimal gelesen habe (einmal gelesen, einmal gehört, im Abstand von ca. zehn Monaten) und den ich vermutlich 2023 noch ein drittes Mal lesen oder hören werde, da ich mit jedem Genuss mehr finde. Wer mit so viel Sorgfalt einen Roman konzipiert, der darf auch erwarten, dass ich mit Begeisterung viel Zeit damit verbringe!


Drei Phasen der Entwurzelung: Oder Die Liebe der Schildkröten von Lisa Jenny Krieg ist ein wundervolles Beispiel für gelungenen Weltenbau, was Genetik und Biologie betrifft. Plus, die Probleme der Protagonistinnen sind eben trotzdem welche, die auch zeitgenössische Lesende sehr gut nachvollziehen können.

Bei den Kurzgeschichten sortiere ich gerade die, die mir in diesem Jahr am besten gefallen haben, und mache am Ende des Jahres oder im Januar einen Blogpost zu den Top-Twenty. Bisher habe ich für diese Hitlist erst zwei Geschichten erneut gelesen und rezensiert, Ersatzkind von Jaana Redflower und Briefe an eine imaginäre Frau von Michael Iwoleit. Ich hoffe, ich schaffe noch mindestens acht mehr, bestenfalls achtzehn. Bei der schieren Masse an Kurzgeschichten, die so pro Jahr erscheint (Stand heute 429), ist es umso wichtiger, auf die Highlights aufmerksam zu machen.

Michael Schmidt: Und welche negativen Aspekte würdest du bei der Science-Fiction 2022 sehen?

Yvonne Tunnat: Von den 429 deutschsprachigen SF-Kurzgeschichten aus dem Jahr 2022 habe ich mehr als 300 gelesen. Mir persönlich haben davon nur etwa fünfzig richtig gut gefallen, auf den Rest hätte ich verzichten können. Andere Menschen haben einen anderen Geschmack und haben daher andere Highlights, aber ich glaube nicht, dass mehr als 150 dieser Kurzgeschichten wirklich viele Fans finden. Somit wäre nur etwa ein Drittel der Storys tatsächlich für einen nennenswerten Anteil der Lesenden lohnenswert. Ich denke, die Latte hängt zu niedrig. Es werden zu viele Kurzgeschichten veröffentlicht, von denen dann ein Großteil nicht gefällt. Die Storys werden nicht oder nur unzureichend lektoriert und daher nicht im besten Gewand präsentiert. Manchmal sind sogar Korrektorat und Buchsatz unbefriedigend.

Ich plädiere dafür, deutlich weniger Kurzgeschichten zur Veröffentlichung zuzulassen und dafür sehr viel mehr Sorgfalt beim Feinschliff walten zu lassen. Das beginnt schon bei den Autor:innen: Nur die besten Werke sollten überhaupt ins Rennen geschickt werden, der Rest verbleibt in der Schublade. Herausgebende sollten lieber weniger als mehr akzeptieren und die akzeptierte Prosa sorgfältig lektorieren. Außerdem gehört es meines Erachtens mit zu den Aufgaben der Herausgebenden, für Feedback (Rezensionen, Leserunden, Lesezirkel) zu sorgen. Lieber statt drei Anthologien pro Jahr nur eine herausgeben und diese dafür richtig gut und gründlich. Das wäre respektvoll den Lesenden gegenüber und nicht zuletzt auch gut für die Autor:innen, denn so, wie es jetzt ist, bleiben viele unter ihren Möglichkeiten, da sie sich bereits für gut genug halten: Die Prosa wird schließlich angenommen und gedruckt!

Michael Schmidt: So eine Jury steckt bestimmt viel Kritik ein. Wie geht ihr da als Gruppe und du als einzelne Person mit um und wie darf man sich so ganz allgemein die Arbeit in der Jury vorstellen? Ihr sucht, soweit ich weiß, ja auch immer begeisterte Leser, die sich euch anschließen.

Yvonne Tunnat: Wer gern deutschsprachige SF liest und sich dazu austauscht, ist herzlich willkommen!

Man darf nie vergessen: Oft dürfen wir nur zwei, drei oder fünf Werke pro Kategorie (Roman oder Kurzgeschichte) nominieren und dann braucht ein Werk auch stets mehr als eine Nennung. Wenn jemand also einen guten Roman geschrieben hat, der aber für niemanden (oder nur für eine Person) zu den absoluten Spitzenromanen des Jahrgangs gehört, reicht es eben nicht für die Shortlist. In diesem Jahr könnte das durchaus auf ein Dutzend oder mehr Romane zutreffen, die ich gelesen habe und sehr gut fand, aber ich konnte eben nicht mehr nominieren als nur meine absoluten Favoriten. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass da einige enttäuscht sein werden; da kann ich nur wieder betonen, wie viele verdammt gute Romane die deutschsprachige SF in 2022 herausgebracht hat.

Nützlich ist auch: Wir diskutieren intern viel über die gelesene Prosa. Es hat den Vorteil, dass ich ggf. auf gute Romane oder Kurzgeschichten aufmerksam gemacht werde, die ich sonst übersehen hätte (niemand kann beispielsweise alle 200+ Romane lesen, die pro Jahr erscheinen), oder ich einen Bogen um solche Dinge machen kann, die schon von anderen getestet und für fürchterlich gehalten wurden. Einiges wird auch kontrovers diskutiert oder sehr ausführlich, weil viele es mochten oder nicht mochten, manchmal wurden auch schon Rückfragen an Autor:innen gestellt, wie sie denn dies oder jenes gemeint hätten. In diesem Jahr habe ich erstmals einige Romane ein zweites Mal gelesen, die mir besonders gut gefielen; meine Best-of Kurzgeschichten lese ich sowieso mehrmals, da ich normalerweise beim dritten oder vierten Lesen immer noch Details finde, die ich vorher übersehen habe. Es macht mir großen Spaß, mich mit anderen SF-Fans detailliert auszutauschen und das in einem relativ geschützten Rahmen.

Schön ist, dass die Jury sehr heterogen ist. Die Geschmäcker dürften allmählich alles abdecken, was es so gibt. Die Alterszusammensetzung ist sehr unterschiedlich, auch sonst sind wir sehr verschieden. Das erklärt auch die Heterogenität auf den Shortlists: Dafür gefällt selten jemandem die gesamte Shortlist, wir sind einfach zu unterschiedlich. Es gibt selten ein Werk, das wirklich allen gefällt, aber auch das kommt vor. Bei den wirklich fürchterlichen Dingen sind wir uns aber recht oft einig.

Michael Schmidt: Du hast als Herausgeberin debütiert und zusammen mit Janika Rehak die Steampunk-Anthologie Der Tod kommt auf Zahnrädern herausgegeben. Steampunk ist auch Science-Fiction, aber nicht nur ...


Yvonne Tunnat: Zumindest in unserer Anthologie haben einige der Geschichten auch starke Anleihen bei der Fantasy oder dem Horror, eine Geschichte kommt sogar quasi ohne phantastische Elemente aus.

Michael Schmidt: Wie kam es zur Idee von Der Tod kommt auf Zahnrädern?


Yvonne Tunnat: Im neuen Weltenportal erzähle ich das sehr ausführlich! Eigentlich ist es deine Schuld. Du hast mich als Rezensentin an Marianne Labisch weiterempfohlen für Die Fahrt der Steampunk Queen, ich habe die Anthologie rezensiert, das hat jemand gesehen und mich gefragt, ob ich eine Steampunk-Anthologie herausgeben möchte. Bevor ich mich versah, hatte ich schon fünf Leute gefragt, ob sie mitmachen wollen, und schon war ich mittendrin.

Michael Schmidt: Auf was darf sich der geneigte Leser bei Der Tod kommt auf Zahnrädern freuen?



Yvonne Tunnat: Es gibt außer Steampunk kein Oberthema und wir hatten keine Zeichenbegrenzung, entsprechend heterogen ist die Anthologie ausgefallen. Wie ich dem bisherigen Feedback entnehme, gibt es keine Geschichte, die von niemandem geliebt wird, es scheint eine zu geben, die bisher allen gefällt, und ein klares Highlight, das von recht vielen als Favorit angegeben wurde. Ich hoffe, dass solche Highlights dann auch bei den KLP-Nominierungen beachtet werden!

Michael Schmidt: Das Buch ist seit dem Bucon 2022 auf dem Markt. Wie ist dein bisheriges Fazit zum Buch und den Reaktionen der Szene?

Yvonne Tunnat: Das Bemerkenswerte ist: Es gibt Reaktionen und zwar eine Menge. So viele, dass ich mich inzwischen frage, warum nicht alle Anthologien so rege besprochen werden.

Klar, NOVA und Exodus werden viel besprochen, auch im direkten SF-Forum.

Sonst sieht es mit Besprechungen von Kurzgeschichten aber überall immer ziemlich schlecht aus. Hier habe ich vorab 16 Rezensierende akquiriert und seitdem sind noch ein paar dazugekommen, andere haben freiwillig rezensiert. Einige der Beteiligten haben beim Lesezirkel mitgemacht, dazu ein paar der Rezensierenden und freiwillige Personen, die zufällig das Buch auch gekauft hatten.

In der Tat ist die Resonanz auch nach zwei Monaten so vielfältig, dass ich mich inzwischen frage, ob die Aufgabe, auch für Feedback zu sorgen, nicht mehr im Fokus der Herausgebenden liegen sollte. Die meisten überlassen das wohl eher dem Verlag, was je nach Vernetzung und Möglichkeiten dann spärlich ausfällt. Ich weiß, dass einige Herausgebende auch Lovely-Books-Leserunden organisieren oder aktiv Rezensierende suchen - aber bei weitem nicht alle. Viele Anthologien bleiben quasi ohne Feedback. So werden die Schreibenden aber nicht besser.

Ich denke, sofern ich noch einmal herausgebe, werde ich mich wieder massiv um Lesezirkel und Rezensionen kümmern. Ich habe durch das Feedback (es kamen auch Rückmeldungen nur an mich via E-Mail) einiges gelernt, was ich beim nächsten Mal anders machen würde.

Ich weiß auch, dass ich natürlich gut vernetzt bin und daher Möglichkeiten habe. Im Steampunk bin ich aber weniger gut vernetzt und habe da vorab Leute gefragt, von denen ich wusste, dass sie sich damit auskennen. Ich glaube, auch weniger gut vernetzte Leute könnten für mehr Feedback sorgen. Man muss halt ein paar Postings machen und einige Emails schreiben.

Michael Schmidt: Hast du selbst Lieblingsgeschichten im Buch?

Yvonne Tunnat: Ha, Fangfrage! Ich sollte mich vor den Wahlen damit zurückhalten. Schließlich habe ich alle angenommen und die Hälfte davon selbst lektoriert. Ich nenne mal zwei, die jeweils Aspekte abdecken, die mir an Prosa sehr gut gefallen. Hayes’ Töchter und Söhne von Thorsten Küper ist richtig fies und dabei schön menschlich. Küper at his best! Wer diese Story für fies hält, sollte mal seinen alten Kram lesen, der war früher noch viel brutaler (ich habe mir seine Story-Sammlung Belichtungszeit gegönnt).



Die Zukunft von Aiki Mira ist sicher kein Beispiel für dampfbetriebene Action, aber ein sprachliches Kleinod voller schöner Details. Erzählt aus der Sicht einer durchaus unsympathischen Figur, der man trotz allem erstaunlich nah kommt.

Michael Schmidt: Deine Geschichte Morsche Haut handelt von Senf, dem Verlust und hat auch eine morbide Komponente. Kurz und intensiv ist die Geschichte. Erzähle doch mal, wie es zur Idee kam und wie du diese umsetztest?

Yvonne Tunnat: Ich habe viele Grundideen, aber selten Zeit, die alle umzusetzen, und manchmal setzt so eine Grundidee auch kein Fleisch an, es kommen also nicht die notwendigen Details dazu, die eine Story richtig lebendig machen. Bei Morsche Haut kamen dankenswerterweise immer mehr Details zu einer guten Grundidee, so dass ich die Geschichte für die Anthologie gern verwendet habe.

Zum Senf kann ich sagen, dass wir unser erstes Kind immer damit aufgezogen haben, ob es den Senflöffel ablecken möchte, und es dabei immer nur entsetzt und angeekelt dreingeschaut hat. Kind 2 hat aber eine Weile lang Senf so sehr geliebt, dass es tatsächlich den Löffel abgeleckt hat, zu unser aller Erstaunen. Das war ein Detail, das ich für die Geschichte gestohlen habe.

Ein Kind in der Trotzphase mit zwei oder drei Jahren kann anstrengend sein. Es lauern einige SF-Ideen in meinem Hinterkopf, die dazu führen, dass jemand für eine lange, lange Zeit ein Kind in diesem Alter betreuen muss. Dazu kommt, dass Trauer, Trauerverarbeitung und auch Trauervermeidung wiederkehrende Themen in meiner Kurzprosa sind. Da kam also einiges zusammen, das letztendlich in diese kurze Geschichte eingeflossen ist.

Wie meistens war ich selbst meine Zielgruppe, ich finde die Geschichte höchst gruselig und traurig, sie lässt mich nicht kalt. Da ich selbst Mutter sehr junger Kinder bin, möchte ich solche Geschichten eigentlich gar nicht lesen. Ich bin eher überrascht, wie gut sie ankommt, ich hätte vermutet, die meisten fänden sie zu ekelhaft. 😁

Michael Schmidt: Wie man an Morsche Haut und Der Tod kommt auf Zahnrädern sieht, du bist nicht nur aktiver Konsument, sondern auch kreativer Teil der Phantastikszene. In Exodus 44 erschien eine Gemeinschaftsarbeit von dir.


Yvonne Tunnat: Ja, stimmt, gemeinsam mit Angelika habe ich Minerva verfasst, eine Kurzgeschichte aus der Sicht der Haus-KI, die gar keinen Körper und kein Gesicht hat, nur eine Stimme, mit der sie am Familienleben teilnimmt. Der Name der KI stammt von Angelika und wir hatten lauter sperrige Titel für die Kurzgeschichte, nannten sie untereinander aber schon ewig einfach nur Minerva, bis einer unserer Testlesenden, Frank Lauenroth, uns fragte, warum wir Minerva nicht einfach als Titel nähmen, das sei viel eingängiger. Wir haben uns einige Monate lang intensiv mit Minerva beschäftigt und es ist eher ein Kammerspiel. Die KI stolpert über ein Geheimnis und klärt dies auf, während sie auf die Tochter des Hauses achtgibt, die wegen eines verletzten Beines das Haus nicht verlässt. Das Kind kommt aber zeitgleich hinter dasselbe Geheimnis und die KI sollte nicht aktiv lügen. Obwohl das Geheimnis sehr traurig ist, ist es eher eine lebensbejahende, positive Geschichte, die uns viel Spaß gemacht hat.

Michael Schmidt: Angelika Brox ist ja auch in Der Tod kommt auf Zahnrädern vertreten. Die Phantastikszene, so wirkt es manchmal, ist eng verbunden, oder täuscht der Eindruck?

Yvonne Tunnat: Angelika und ich kennen uns aber von der Schreiblust, ein Verlag, der jeden Monat eine Monatsaufgabe veröffentlicht. Dort bin ich ein wenig durch starke, aber auch konstruktive Kritik aufgefallen und Angelika hat dort auffällig oft die Monatsaufgaben gewonnen. Einmal schrieb ich zu einer ihrer Storys, dass mir zwar einiges einfallen würde zur Verbesserung, ich aber glaube, man könne sie auch einfach so lassen, offenbar wird sie ja auch so schon von allen geliebt. Angelika wollte aber gern hören, was mir noch einfällt. Dieser Drang, sich noch zu verbessern, hat mich für sie eingenommen, so entstand ein engerer Kontakt, der über den Austausch bei der Schreiblust hinausging und schließlich in unsere gemeinsamen Projekte mündete.

Michael Schmidt: Wie würdest du die Szene charakterisieren?



Yvonne Tunnat: Offenbar gibt es einen harten Kern, der sehr aktiv ist und den man mindestens virtuell auch kennt. Da kann ich die meisten Leute inzwischen einschätzen. Wenn Person A mal etwas heftig kritisiert, fahre ich erschrocken hoch; kritisiert dagegen Person B, rühre ich mich keinen Millimeter, da Person B eh alles kritisiert.

Schade ist, dass der deutschsprachige Markt in der Regel nicht mehr als höchstens 500 Lesende für SF-Anthologien oder Magazine hergibt. Da bin ich etwas neidisch auf den anglo-amerikanischen Markt – da kann man aber zumindest theoretisch ja auch von hier aus landen, einen guten Text mit guter Übersetzung vorausgesetzt. Das wäre dann so eine Art Langzeitziel von mir.

Hierzulande lesen die meisten lieber Romane. Irgendwo verständlich, ich habe ja selbst weiter oben gesagt, dass zwei Drittel der SF-Kurzgeschichten besser in der Schublade geblieben wären. Das gilt vermutlich für Romane ganz ähnlich, aber eine Leseprobe warnt einen ja in der Regel vor Fehlkäufen.

Michael Schmidt: Zwei Geschichten von dir haben wir jetzt kennengelernt. Welche interessanten Veröffentlichungen von dir gibt es sonst noch?

Yvonne Tunnat: Stimmt, 2021 waren es noch null und 2022 dann zwei. Wobei, eine weitere lief unter dem Radar, Das Surrogat erschien im Elsterconband ohne ISBN, einzelne Personen haben sie trotzdem entdeckt und mir dazu Feedback gegeben.

Michael Schmidt: Und welche Veröffentlichungen stehen demnächst an?


Yvonne Tunnat: 2023 wird es auf jeden Fall die Geschichte Der Spielplatz geben, sie spielt in einem Gefängnis und erscheint bei p.machinery in Jenseits der Traumgrenze, herausgegeben von Marianne Labisch. .

Außerdem gibt es bei Hirnkost im Frühjahr eine Anthologie zum Thema „entfernte Verwandte“, das sollte in der weit entfernten Zukunft spielen und es sollten keine Menschen mehr vorkommen. Das war schwer! Da habe ich gemogelt. Mein erzählendes Ich ist streng genommen ein Mensch, wenn es auch nicht mehr in einem menschlichen Körper lebt und aufgrund einer längeren Reise und der Zeitdilatation ziemlich viel von dem verpasst hat, was zwischenzeitlich auf der Erde los war. Die Geschichte heißt Nanita findet Leben.

Ebenfalls bereits angenommen ist Die Geburtstagsparty, das erscheint im nächsten Weltenportal. Das hier ist nicht Bullerbü ist ein wenig heftiger vom Inhalt her, das erscheint in einer Anthologie, die Marianne Labisch zurzeit zum Thema „Flüchtlinge“ zusammenstellt.

Jetzt werde ich eine längere Pause machen und erstmal verstärkt lesen und besser werden, das schadet auch nie.

Michael Schmidt: Du bist ja einerseits eine Autorin, die jetzt keine große Veröffentlichungshistorie vorweisen kann, andererseits auch kein Neuling in der Szene. Was würdest du aufstrebenden Autorxs mit auf den Weg geben?

Yvonne Tunnat: Ach, denen würde ich sooo gern sagen, dass sie nicht sofort veröffentlichen müssen! Es ist absolut sinnvoll, sich erst mit dem auseinanderzusetzen, das es schon gibt. Wenigstens in der eigenen Szene vor der Haustür, bestenfalls auch international. Oder mehr als drei Klassiker gelesen zu haben. Ich habe beim Lesen einiger Anthologien oft das Gefühl, mehr als ein paar Netflix-Serien stecken da als SF-Kanon nicht dahinter. Sollten Menschen, die gern schreiben, nicht auch gern lesen? Merkt man da nicht irgendwann, was nicht funktioniert?

Ganz oft finde ich Infodump in Dialogen oder eine Art Zukunfts–Sachtext. Das darf nur Olaf Stapledon. Bitte vermittelt mir eure SF-Welt mittels der Action, erweckt sie zum Leben, werft mich einfach hinein, ich werde schon merken, ob ich damit klarkomme.



Michael Schmidt: Wie würdest du für dich gute Science-Fiction charakterisieren? Was genau macht für dich gute Literatur aus? Da hat ja jeder ganz eigene, individuelle Vorstellungen.

Yvonne Tunnat: Gute Science-Fiction wird es nur, wenn es erstmal eine starke Story ist. Wohlgemerkt, die Story muss stark sein, nicht die Idee! Eine starke neue Idee zu haben ist in der SF eh schwierig, das meiste war schon mal da, und selbst wenn die Idee neu und gut ist, trägt die Plotidee alleine noch nicht eine starke Story. Nur wenn die Story stark genug ist, dass sie auch alleine das Lese-Interesse halten würde, kann ich auch den Weltenbau und die SF-Komponenten genießen. Die Besten nutzen die SF, um Geschichten zu erzählen, die nur in dieser phantastischen Umgebung möglich sind, wissen aber, dass sie trotzdem tolle Plots und starke, plastische Figuren brauchen. Michael Iwoleit und Thorsten Küper schreiben seit Jahrzehnten so, Aiki Mira ist 2021 aus heiterem Himmel in der Szene aufgetaucht und schreibt so. Das ist immer eindeutig SF, aber diese Leute wissen ganz genau, dass auch SF verdammt gut geschrieben sein sollte. Die beschäftigen sich mit Sprache, mit den Figuren und den Details, die eine Story erst authentisch machen.

Michael Schmidt: Und was geht überhaupt nicht?

Yvonne Tunnat: Allgemeinheiten statt Details. Da stirbt in einer Geschichte eine Nebenfigur und jemand sagt: “Oh, wie traurig. Er war noch so jung.”

Das löst nichts in mir aus. Dafür braucht es ein menschliches Detail, das mir die Figuren nahe bringt, dann bin ich emotional involviert und trauere mit. Bei der eben erwähnten Prosa von AikiMira wimmelt es so sehr von Details, dass man manchmal Schwierigkeiten hat, dem roten Faden zu folgen. Trotzdem, mir ist lieber, es sind viele als keine (und keine gibt es in der deutschsprachigen Szene zu oft!).

Viele schreibende Menschen scheinen zu glauben, dass ich alleine schon durch simple Aussagesätze zum Mitfiebern gebracht werde. Das funktioniert aber so nicht. Funktioniert das etwa bei denen? Das kann mir doch keiner erzählen!

Michael Schmidt: Noch ein Wort an die Meute dort draußen!

Yvonne Tunnat: Lest mehr. Schreibt weniger.

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