Christian Weis - Camera obscura (Leseprobe)


Leseprobe aus Zwielicht 9



Christian Weis - Camera obscura


Ihre Augen weiteten sich, die Lippen bebten. Sie hob den Arm, legte die Faust ans Kinn. Sie wollte etwas sagen, wollte es hinausbrüllen, doch es blieb bei einem stummen Schrei. Mit der Wand im Rücken kroch sie auf der Matratze zur Seite, bis das Bettgitter aus Messing sie aufhielt. Sie öffnete die Faust, spreizte die Finger und streckte ihren Arm der schemenhaften Gestalt entgegen, die sich ihr näherte. Riesengroß schob sich der Schatten über das Bett, über ihre nackten Unterschenkel, über den Saum ihres Nachthemds, über ihren zitternden Leib, bis er ihr Gesicht mit Dunkelheit überzog. Sie presste die Knie gegeneinander und zog die Beine an den Körper.
Ihre Lider flackerten. Immer schneller hob und senkte sich ihr Brustkorb. Ein Krächzen entrang sich ihrer Kehle. Sie musste blinzeln und unterdrückte verkrampft den Hustenreiz, der immer schlimmer wurde.

„Halt!“, dröhnte Lützendorffs Stimme durch das Atelier. Er umrundete die Kamera und rannte dabei fast den Beleuchter über den Haufen. Mit finsterem Blick schimpfte er: „Du warst wieder zu schnell mit der Lampe, Edgar! Der Schatten soll langsam über Gretas Körper gleiten, nicht wie ein Güterzug darüber hinwegrasen! Und Greta!“ Er trat vor das Bett und legte die Handflächen wie im Gebet vor der Brust aufeinander, als er ihr tief in die Augen schaute. „Nicht blinzeln, um Himmels willen nicht blinzeln, ja? Damit machst du die ganze Szene kaputt!“
Greta konnte den Reiz nicht länger unterdrücken und hielt sich die Hand vor den Mund, während sie hustete. Sie rutschte aus Freymuths Schatten auf der Matratze nach vorn, setzte sich aufrecht hin und zog den Saum ihres Nachthemds über die Knie. Es war ihr unangenehm, vor so vielen Männern derart entblößt in aufreizenden Posen auszuharren. Allmählich bereute sie, dass sie sich von Harro Lützendorff nach Berlin hatte locken lassen, um hier Karriere zu machen. Lützendorff war zweifelsohne ein Genie, aber Normalsterbliche ertrugen Genies nur schwer.
Nachdem Edgar den Scheinwerfer ausgeschaltet hatte, mit dem der Schatteneffekt erzielt wurde, zog Freymuth sich den künstlichen Buckel von den Schultern und die Perücke vom Kopf. Er streifte die Handschuhe mit den langen Krallen ab und schenkte Greta einen aufmunternden Blick. Sie lächelte zurück, sah ihm jedoch an, dass sie es nicht überzeugend hinbekam. Vielleicht war es eine Schnapsidee gewesen, Filmschauspielerin werden zu wollen. Dazu brauchte es mehr Talent, und vielleicht auch mehr Glück.
Die Garderobiere eilte herbei und legte Greta den Morgenmantel über die Schultern, als sie sich vom Bett erhob. Trotzdem fröstelte sie. Das Atelier war schlecht beheizt.
„Zehn Minuten Pause“, verkündete Lützendorff, nachdem er sich abgeregt und seine Stimmlage auf Normalmaß gebracht hatte. Er atmete tief durch und sah Greta an. „Wir drehen die Szene morgen noch mal. Für heute kannst du Schluss machen. Nachher nehmen wir Freymuths Schatten auf der Treppe auf, dafür brauchen wir den Rest des Nachmittags.“
Greta schluckte hart. „Ich hoffe … ich enttäusche dich nicht allzu sehr, Harro.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, du machst deine Sache gut. Was uns fehlt, ist der Ton. Mit Ton könnten wir eine ganz andere Wirkung erzielen. Du hast eine wunderbare, kräftige Stimme – deine Schreie würden die Zuschauer in die Kinosessel pressen.“
Greta fragte sich, ob dies ein Kompliment sein sollte, traute sich jedoch nicht, ihn danach zu fragen. Als Regisseur blieb er ein Buch mit sieben Siegeln für sie, und noch mehr als Mensch.
Hinter der Kamera löste sich Mertens aus dem Dunkel und rollte das Drehbuch zusammen, um es wie einen Knüppel zu schwingen. „Nein, nein und nochmals nein!“, ereiferte sich der Produzent. „Die Amerikaner werden auf die Nase fallen, wenn sie ihre Filme mit Lispelstimmen und hohlem Gesäusel vermurksen! Lang hat für Dr. Mabuse auch keinen Ton gebraucht, trotzdem war es ein sensationeller Erfolg.“
„Hätte er Metropolis mit Ton drehen können, wäre der Film bei der Premiere nicht durchgefallen“, entgegnete Lützendorff.
„Das Publikum hat den Film nicht verstanden, jedenfalls nicht in der langen Fassung“, widersprach Mertens. „Daran lag es, nicht am fehlenden Ton! Lang schneidet ihn gerade neu und will ihn im Sommer wieder ins Kino bringen.“
Lützendorffs Augen funkelten angriffslustig. „Das Publikum braucht einen Film nicht zu verstehen – es muss überwältigt werden! Jede Einstellung muss es davon abbringen, einen Film kapieren zu wollen – er muss auf die Leute wirken, muss sich in ihren Geist schleichen, sich dort einbrennen und ihr Denken ausschalten! Erst dann werden sie ihn so hinnehmen, als wären sie mit der Realität konfrontiert!“
„Bilder können viel nachdrücklicher überwältigen“, brummte Mertens verächtlich. „Dazu braucht es kein Gekreische. Murnau hatte für Nosferatu auch keinen Ton nötig – hätte er den Film dunkler ausgeleuchtet, wäre er ein Meisterwerk.“
„Besessene schreien ihre Dämonen nun mal laut hinaus“, versetzte Lützendorff, wobei er seine Stimme erkennbar zügelte. „Sie keifen und kreischen, sie krächzen und sprechen mit fremden Stimmen. Ohne Ton wirkt das nicht.“ Er trat einen Schritt auf Mertens zu und fixierte ihn mit seinem Blick. „Waren Sie schon mal in einem Irrenhaus? Haben Sie sich diesen Schreien stundenlang ausgesetzt? Wissen Sie, wie sich das anhört?“
Greta schob sich an den beiden Streithähnen vorbei und steuerte mit gesenktem Haupt auf die Garderobe zu. Sie streifte flüchtig Edgars Hand, ohne den Beleuchter anzusehen. Erst als sie den Wandspiegel passierte, schaute sie auf und erschrak. Das blass geschminkte Gesicht mit den dunklen Schatten unter den Augen gehörte einer Fremden. Ihr eigenes konnte es nie und nimmer sein.


aus Zwielicht 9

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