Felix Woitkowski - Wenn die Welt klein und bedrohlich wird (Interview)
Michael Schmidt: Hallo Felix, stell dich den Lesern doch bitte einmal vor!
Felix Woitkowski: Hallo, Michael. Das mache ich gerne. Ich bin im beschaulichen Soest geboren, zog über Münster und Kassel nach Göttingen, wo ich heute lebe. Hauptberuflich bin ich an der Universität Kassel als Sprachwissenschaftler und -didakt beschäftigt In der Zeit, die mir daneben noch bleibt, lese ich und schreibe ich phantastische Literatur, organisiere mit Martin Witzgall die Storyolympiade (www.storyolympiade.de) und gebe hin und wieder Sammlungen alter und neuer Werke der Phantastik heraus.
Michael Schmidt: Die Coronakrise ist
allgegenwärtig. Eine Krise, die das Leben komplett verändert hat oder wird es
in der Nachschau nur eine von vielen Krisen sein wie die Finanzkrise 2009?
Felix Woitkowski: Puh, die schwerste Frage
gleich zu Beginn. Ich bin ja nicht in der Lage in die Zukunft zu schauen und
weiß genau so wenig wie alle anderen, wie lange uns die Corona-Krise noch
begleiten wird, ob sie zwangsläufig zur neuen Normalität geworden ist. Jetzt
müssen wir erstmal die zweite Welle überstehen.
Michael Schmidt: Du hattest schnell die Idee,
die Situation literarisch zu verarbeiten.
Felix Woitkowski: Ja, das war mir ein starkes Anliegen,
und wie sich zeigte, war ich nicht allein damit. Die Geschehnisse Mitte März haben mich
emotional enorm aufgewühlt. Ich hatte tatsächlich den Eindruck, dass die Welt,
wie ich sie kannte, innerhalb weniger Tage aufhörte zu existieren. Dazu trugen
die steigenden Infiziertenzahlen ebenso bei wie die für mich zwar
nachvollziehbaren, aber ohne Frage einschneidenden Maßnahmen der Politik, deren
enorm knappe Verkündung, notwendige Veränderungen in meinem beruflichen und
privaten Alltags(er)leben etc. Aus diesem Gefühl heraus ist auch der Titel des
späteren Buches entstanden: „Wenn die Welt klein und bedrohlich wird“. Diese
Wörter geben genau das wieder, was ich Mitte März empfunden habe.
Die Idee zu dem Projekt habe ich am Abend des
13. März, einem Freitag, gehabt. An dem Abend, den ich alleine verbrachte,
wuchs der Impuls und Drang, die erschreckende Gegenwart begleiten, dokumentieren
und aufarbeiten zu müssen. Ich habe in den letzten Jahren immer mal wieder mit
philosophischen Überlegungen zu Fremdheit auseinandergesetzt und dort ist mir wiederholt
begegnet, dass Philosophinnen und Philosophen immer dann, wenn sie mit Sprache
etwas absolut Fremdes fassen wollen, auf Begriffe und Bilder der Phantastik
zurückgreife. Für mich bedeutet das im Umkehrschluss, dass die Sprache des
Phantastischen die einzige ist, etwas so nie Dagewesenes, etwas Fremdes
beschreiben zu können. Warum also nicht genau die Menschen ansprechen, die über
diese phantastische Sprache am besten verfügen? Die Expertinnen und Experten
des Fremden? Das habe ich dann getan.
Michael Schmidt: Was erwartet den Leser in dem
Buch Wenn die Welt
klein und bedrohlich wird?
Felix Woitkowski: Sieht man von meinem Vorwort
ab enthält das Buch dreißig Texte von dreißig Autorinnen und Autoren, die an
dreißig aufeinanderfolgenden Tagen geschrieben (oder wenigstens begonnen)
wurden und durch diese Tage auch inspiriert sind. Wir begannen am, 15. März und
endeten Mitte April zufälligerweise am Ostermontag. In diesen dreißig Tagen ist
ein vielstimmiges literarisches Tagebuch und Dokument der Zeitgeschichte entstanden,
das sowohl autobiographische als auch fiktionale Texte enthält,
zwischenzeitlich lyrisch oder essayistisch ist und sich insgesamt wenig an
Gattungen und Genres hält. Aber was soll man auch erwarten von Texten,
inspiriert von einer Welt, die Kopf steht? Dass das ganze natürlich immer auch
wieder tief in der Phantastik verwurzelt ist, brauche ich bei den beteiligten
Autorinnen und Autoren wohl nicht extra zu erwähnen, aber ‚phantastisch‘ heißt
hier ganz sicher nicht ‚weltfremd‘. Seit April habe ich das Buch mehrfach
gelesen und finde erstaunlich, wie es die Veränderungen dieses ersten
Corona-Monats in Deutschland wiederspiegelt, wie nach und nach sich die
Perspektiven ändern und zunehmend neue Themen in den Vordergrund drängen. Dabei
berührt es schon Themen, die auch die heutige Debatte noch bestimmen, etwa
Corona-Partys (Tobias Bachmann) und Verschwörungstheorien (Markus K. Korb).
Michael Schmidt: Die Geschichten in Wenn die Welt
klein und bedrohlich wird sind ja unterschiedlich. Gibt es
Literaturformen oder Genres, die besonders geeignet sind, sich mit einer
solchen Krise auseinanderzusetzen oder ist gerade die Bandbreite interessant?
Felix Woitkowski: Als ich mit dem Projekt begann,
ahnte ich nicht, wie viele Bücher zur Corona-Krise erscheinen würden.
Mittlerweile füllen sich in den Buchhandlungen ja ganze Tische damit. Da liegen
literarische, essayistische und wissenschaftliche Werke nebeneinander. Bei
Letzteren bin ich mir nicht sicher, wie lange sie lesenswert bleiben oder ob
sie in einer sich schnell wandelnden Welt der Krise nicht immens schnell
überholt sind. Insgeheim bin ich da froh, dass ich selbst nicht versucht habe,
eine umfassende Analyse zu schreiben und der Literat, nicht der Wissenschaftler
in mir die Oberhand behalten hat. „Wenn die Welt klein und bedrohlich wird“ hat
für mich zwei große Vorzüge: Es räumt erstens einer Vielzahl von Perspektiven,
Meinungen und Stimmen in unterschiedlichen Stilen und Formen einen Platz ein,
es ist zweitens unmittelbar im ersten Krisenmonat und Lockdown, quasi
tagesaktuell geschrieben worden. Damit ist es wenigstens als künstlerisches
Dokument und Zeitzeugnis vielleicht ein Stück ... Achtung, ich weiß, jetzt
kommt ein sehr großes Wort ...
wahrhaftiger als andere Publikationen, die stärker am Reißbrett, mit
mehr Ruhe, Kontrolle und klarerem Blick auf einen Absatzmarkt entstanden sind. Aber
darüber lässt sich natürlich trefflich streiten und ich bin möglicherweise
etwas voreingenommen.
Michael Schmidt: Die Autorenschar die du
versammelt hast ist ja illuster und bunt. Wie kamst du zu der Truppe?
Felix Woitkowski: An dem Abend, an dem mir die
Idee zu dem Buch kam, traf ich Vincent Voss im Forenchat von phantastik-literatur.de.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich nicht mehr als eine Ideenskizze, trotzdem sagte er sofort
zu. Danach habe ich überlegt, wen ich fragen und direkt anschreiben könnte. Für
eine öffentliche Ausschreibung war bei diesem Projekt keine Zeit. Nachdem ich
aber seit vielen Jahren als Autor und Herausgeber aktiv bin, kenne ich
zahlreiche Autorinnen und Autoren, mit denen ich gerne zusammenarbeite.
Außerdem war ich neugierig, wie andere, mit denen ich noch nicht zusammen
publiziert haben, auf das Projekt anspringen würden. Ich habe also einfach alle
angeschrieben und sie sich einen Tag auswählen lassen.
Viele positive Antworten kamen postwendend,
häufig auch in Verbindung mit sehr persönlichen E-Mails, in denen es um Ängste
und Sorgen ging. Ich war also offensichtlich nicht der Einzige, den die
Gegenwart zutiefst berührte und der die aktuellen Ereignisse literarisch auf-
und verarbeiten musste. Nur wenige erbaten sich etwas Bedenkzeit, noch weniger
sagten ab, darunter hartgesottene Horror-Autorinnen und -Autoren. Es ist eben
doch etwas anderes, fiktionale Schrecken heraufzubeschwören oder sich mit einem
ganz gegenwärtigen schreibend auseinanderzusetzen. Letztlich kamen so viele
Zusagen zusammen, dass für meinen Beitrag kein Platz mehr war – ein Planungsfehler,
den ich aber ganz und gar nicht bereue.
Michael Schmidt: Wird es in Zukunft ähnliche
Projekte geben? Die meisten Themenanthologien sind ja eher traditionell, es
wird ein typischer Aufhänger genommen und dazu ein Buch mit Kurzgeschichten
gemacht. Ich finde, da sticht Wenn die Welt
klein und bedrohlich wird ja doch hervor!
Felix Woitkowski: Ich sehe große Unterschiede
zwischen meinem Buch und typischen Themenanthologien, wie sie regelmäßig in
phantastischen Kleinverlagen erscheinen und dort auch ihren wohlverdienten
Platz haben. Der Ursprung ist ja tatsächlich ein tagesaktuelles Krisenerleben
und ich hoffe nicht, dass ich in meinem Leben noch viele solcher Erfahrungen
mit immer neuen Krisen machen muss. Deshalb glaube und hoffe ich nicht, dass daraus
eine Reihe wird. Davon abgesehen gehören für mich aber Literatur, Phantastik
und ein wacher Blick auf die Gegenwart zusammen. Ich will deshalb nicht
ausschließen, dass ich auch explizit wieder etwas in diese Richtung herausgeben
oder schreiben werde.
Michael Schmidt: Woran arbeitest du gerade?
Felix Woitkowski: Ich habe gerade eine Novelle
an einen Verlag geschickt – darüber erzähle ich aber erst, wenn ich eine Zusage
dafür habe. Ansonsten liegt auf meiner Festplatte ein neuer Roman in
Rohfassung, der ein Stück weit die Stimmung meines Debüts „Die Wanderdüne“
einfängt, aber ganz anders gelagert ist und ganz sicher noch eine Menge Arbeit
erfordert, bis ich ihn veröffentlichen kann. Daneben sind gerade zwei Geschichte
fertig geworden, eine für eine Steampunk- und eine für eine Horror-Anthologie.
Der nächste Band der Storyolympiade, den Martin Witzgall und ich im Verlag
Torsten Low herausgeben, wird bald erscheinen und enthält phantastische
Geschichten zum Thema „Generationen“. Außerdem
konzipiere ich mit Tobias Reckermann und Christian Veit Eschenfelder gerade einen neuen Band mit phantastischen Novellen. Wer darauf nicht warten möchte:
Besorgt euch unseren ganz frisch erschienenen Novellenkreis „Die Zeit der Feuerernte“
(Whitetrain). Für mehr reicht die Zeit dieses Jahr nicht, weil auch noch meine
Doktorarbeit erscheinen soll.
Michael Schmidt: Noch ein Wort an die Meute
draußen!
Felix Woitkowski: Unzufriedenheit schützt nicht vor Verantwortung! Bitte haltet Abstand, tragt eure Masken (richtig) und lasst uns diese Zeit gemeinsam gesund durchstehen.
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