Gard Spirlin - Dann singe ich ein Lied für dich (Zwielicht 13)


Gard Spirlin  hat mit Dann singe ich ein Lied für dich aus Zwielicht 13 den Vincent Preis 2019 als Beste Kurzgeschichte gewonnen. Hier die Leseprobe der Geschichte:

Gard Spirlin - Dann singe ich ein Lied für dich

 Wieder ging es zwei Schritte weiter. Tobias seufzte. Warum tat er sich das eigentlich an? Seit dem frühen Morgengrauen stand er sich schon die Beine in den Bauch und das alles nur, um das allerneueste Phone-X gleich am Erscheinungstag abgreifen zu können – noch dazu zu einem horrenden Preis! Dabei war er nicht einmal der Erste gewesen, der sich vor dem Flagship-Store anstellte, nein, ihn hatte bereits eine lange Schlange an Fanboys und -girls erwartet, die schon seit dem letzten Abend hier kampierten. Egal, der eigentliche Grund für seinen Durchhaltewillen war, dass er heute Abend endlich ein Date mit Anna hatte, der dunkeläugigen Schönheit aus der Einkaufsabteilung, die er schon lange dahin gehend bearbeitet hatte. Und als einen nicht unwesentlichen Faktor für ein erfolgreiches Abschleppmanöver der heißen Braut erachtete Tobias den Besitz des nagelneuen Phone-X, der ihm die dafür nötige Bewunderung Annas einbringen sollte. Also Augen zu und durch. Irgendwann musste er ja schließlich auch an die Reihe kommen. Doch zwischen ihm und dem Eingang des Stores lagen noch immer gute vierzig Meter und damit mindestens doppelt so viele potenzielle Kunden, die ihm womöglich das letzte Phone-X vor der Nase wegschnappen könnten.

Die nächsten zweieinhalb schleppenden Schritte. Neidvoll starrte er auf ein aufgeregt schnatterndes Pärchen, das gleich mit zwei Stück des begehrten Smartphones an Tobias vorbeiging. Das sollte verboten werden, dachte er gehässig. Ein Gerät pro Paar muss reichen! Wo kommen wir denn da hin? Fröhliches Lachen voraus erregte plötzlich seine Aufmerksamkeit. Einige Meter vor ihm kam heftige Bewegung in die Menschenschlange. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, was dort vor sich ging. Anscheinend begannen ein paar Kids vorne in der Reihe zu tanzen und er hörte ausgelassenen Gesang. Na, die hatten Nerven. Oder waren sie etwa frühmorgens schon zugedröhnt? Wieder ging es ein paar Schritte weiter. Der Gesang und das Lachen ebbten langsam ab und er hörte stattdessen Münzen klimpern. Als er zu der Stelle kam, wo zuvor der Tumult gewesen war, sah er die mutmaßliche Quelle des Trubels: Eine sehr alte Frau saß in einem Hauseingang und grinste fröhlich und zahnlos zu ihm hoch, vor sich eine Schale mit Münzen. Auch das noch, dachte er angewidert. Können die nicht ihren Flagship-Store frei von so einem Gesindel halten? Immerhin sind es jetzt nur mehr höchstens dreißig Meter bis zum Eingang, da kann man doch verlangen, dass man nicht belästigt wird, oder? Die Alte sah indessen unverwandt zu ihm auf, mit einem irritierend wachen Blick aus hellgrauen Augen, der so gar nicht zu ihrem verschlissenen, ehemals bunt gemusterten Kleid passen wollte. Tobias wandte sich hastig ab, doch just in dem Moment begann die Alte, mit erstaunlich kräftiger Stimme eine fröhliche Melodie zu singen:

Hast du ein bisschen Geld für mich?

Dann singe ich ein Lied für dich!

Verbissen starrte er nach vorn, er hasste solche Situationen! Was konnte er schon für das Leiden der Welt? Er hatte selbst genug damit zu tun, seine Designerklamotten zu finanzieren und natürlich hatte er sich für das zukünftige neue Phone-X ein paar Samstagabend-Clubbings verkneifen müssen. Soll die alte Zigeunerin halt auch ein bisschen sparen, dann klappt’s schon mit Hartz IV!

Hast du ein bisschen Geld für mich?

Dann singe ich ein Lied für dich!

Die alte Hexe gab doch wirklich keine Ruhe, so eine Frechheit!

 „Ich habe gar kein Bargeld!“, keifte er sie an. „Ich zahle prinzipiell nur mit Karte, Pech gehabt!“

So, der habe ich’s jetzt aber gegeben, dachte er befriedigt.

Die Zigeunerin sprang behände auf und wirkte plötzlich gar nicht mehr so gebrechlich wie eben noch. Tobias wich zurück, als sie sich ihm geduckt näherte und dabei mit einem seltsamen Singsang ganz anderer Art begann:

Lügen haben kurze Beine,

Drei Münzen fühl ich, wären meine!


Die vollständige Geschichte kann in Zwielicht 13 nachgelesen werden.

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