Der Samen der Veränderung
Ein Haufen Geschichten haben sich im Laufe der Zeit angesammelt. Geschichten verschiedenster Genres, verschiedenster Art. Zeit genug, die Geschichten Stück für Stück zu präsentieren:
Der Samen der Veränderung (Steampunk, Weltenportal Nr.3)
17. Juni 1913, vormittags
Marseille galt als
Schmelztiegel der Kulturen, und die Küstenlinie zeigte diese Vielfalt aus alten
und neuen Gebäuden, aus Wohlstand und Armut, aus europäischem und afrikanischem
Einfluss. Die vielfältigsten Gerüche schwängerten die Luft, und der
allgegenwärtige Lärm brandete bis nach hier draußen. Als Theo Fort Saint-Jean
erblickte, zuckte er unwillkürlich zusammen und duckte sich hinter dem Beiboot
des Schoners.
Narr, schalt er sich. Als ob dich jemand erkennen würde.
Oran war fern, und auch wenn der
Arm der Legion weit reichte, glaubte er nicht, dass ihn hier jemand erwartete.
Täglich desertierte jemand aus der Legion, und wenn man sich schnell genug aus
dem Dunstkreis des Regiments entfernte, standen die Chancen gut, ungeschoren
davonzukommen. Er hatte sich gut vorbereitet, und niemand sollte nachvollziehen
können, wohin er geflüchtet war. Erwartungsgemäß blickten die Wachen im Fort
stur geradeaus und beachteten das heruntergekommene Frachtschiff überhaupt
nicht.
Theo hatte ordentliche Kleidung an, trug seine wenigen Habseligkeiten
in einem stabilen Koffer und machte nicht den Eindruck eines desertierten
Fremdenlegionärs. Die Papiere, die ihm Farid Khalfaoui in Oran ausgestellt
hatte, liefen auf den Namen Theodore Gimbel, geboren 1886 in Potsdam, Preußen.
Niemand würde diesen edlen Gesellen mit Theodor
Messerschmidt aus der preußischen Rheinprovinz, Jahrgang 1888 und desertiert am
3. Januar in Ghardaia, in Verbindung bringen.
Langsam glitt das Schiff in den Hafen, und je näher es dem
Landungssteg kam, desto nervöser wurde er. Kaum hatte die Maghreb am Pier festgemacht, bedankte er sich bei der Mannschaft
und verabschiedete sich. Ein letzter banger Blick ging zu Saint-Jean, dann
tauchte Theo in die Altstadt Marseilles und ihrer bunten Bevölkerung ab. Heute
Nacht würde er das Treiben genießen.
18. Juni 1913, nachts
Die
Nacht war sternenklar. Sie hetzte von Nische zu Nische, nutzte alle natürlichen
Verstecke aus, während ihre Füße zwar den Boden berührten, aber keinerlei
Geräusche von sich gaben.
Aber
egal was sie tat, die Verfolger blieben ihr im Nacken. Sie hörte die harten
Tritte auf dem Boden, ein vielstimmiges Konzert der Stiefel, das ihr zeigte,
die Schweizergardisten würden erst ruhen, wenn sie gefasst war.
Sie
verstand es nicht. Als Profi in Sachen Verschleierung und Verfolgung sollte es
ihr an sich leichtfallen, ihre Verfolger abzuhängen. Doch immer wieder fanden
sie ihre Fährte.
Nervös
befingerte sie den Gegenstand in ihrer Hosentasche. Warm und anschmiegsam. War
es das Ei? Das sonderbare Eigenleben darin? Sobald sie es in die Hand nahm,
schien es die Schweizergardisten auf ihre Spur zu bringen. Egal, wie erkaltet
es zwischendurch erschien.
Spontan
kam ihr eine Idee. Erneut verschleierte sie ihren Weg, huschte wie ein Schatten
durch die Altstadt und legte an einer ganz speziellen Stelle das Ei ab. Niemand
würde es dort finden – ihre Verfolger, wenn sich die Theorie als richtig
entpuppte, schon gar nicht.
Sie
verschmolz mit der Nacht, sah zu, dass sie sich eilig von dem Versteck entfernte
und stürzte sich ins Nachtleben Marseilles.
Als der
Morgen graute, trat sie den Heimweg an. Morgen würde sie das Ei auf die Reise
schicken. Allein. Sie hatte schon eine Idee.
19.
Juni 1913, nachts
Theo nahm auf dem gemütlichen Diwan Platz, bestellte einen
Beaujolais und stellte seinen Koffer an die Seite. Von hier aus hatte er einen
guten Überblick über das La Caravelle
und gleichzeitig seine Habseligkeiten im Blick.
In dem verqualmten Laden sah man kaum das andere Ende des
großen Raumes. Das verschlissene Mobiliar erwies sich bei genauerer Betrachtung als recht sauber. Bilder
schmückten die Wände und zeigten gewagte Szenen, die augenscheinlich für den
zweifelhaften Ruf des La Caravelle verantwortlich
zeichneten. Die verspielten
Deckenleuchter gaben dem Raum eine
lockere Note, auch wenn das Gaslicht unruhig flackerte, als wäre die
Zufuhr nicht optimal. Der Boden war
mit verschiedenen Läufern bedeckt, ein willkürliches Sammelsurium aus
verschiedenen Epochen und Stilrichtungen, die der Szenerie einen bunten
Anstrich verliehen. An den Rändern des Raumes befanden sich mehrsitzige Sofas, die Mitte war zum Tanzen
freigehalten. Hier und da standen die Besucher in kleinen Gruppen zusammen und
tratschten über Gott und die Welt.
Endlich, nach drei intensiven Jahren in der Legion, nach
schlimmem Drill und noch schlimmeren Erlebnissen, bekam er erstmals seit seiner
Flucht aus der Rheinprovinz die Gelegenheit, am gesellschaftlichen Leben
teilzunehmen.
Tagsüber hatte Theo ein wenig in einer gemütlichen Wiese
geruht. Er hatte sich im öffentlichen Bad frisch gemacht und war jetzt bereit,
sich die Nacht um die Ohren zu schlagen und die Puppen tanzen zu lassen.
Zumindest ein wenig, denn sein Portemonnaie bezeugte, dass Schmalhans
Küchenmeister war. So würde er
morgen früh hungrig, aber hoffentlich glücklich in den Schlaf fallen.
Vielleicht tat sich ja im Laufe des Abends noch eine Übernachtungsmöglichkeit
auf.
Vorne spielte ein alter Berber eine traurige Melodie, doch
kaum hatte Theo das erste Glas Rotwein geleert, übernahm eine bunte Combo und
spielte einen flotten Tango. Er bestellte einen weiteren Beaujolais, und die
kleine Brünette lächelte kokett, als er ein bescheidenes Trinkgeld gab.
Sollte er sie nach einem Quartier für die Nacht fragen? Er
glaubte nicht. Die Kleine wohnte wahrscheinlich noch bei ihren Eltern, und auf
den Ärger konnte er gern verzichten. Er musste anders über die Runden kommen.
Vor allem sollte er seine Finanzen zusammenhalten. So
beschloss er, den Beaujolais in Maßen zu trinken und seinen Durst zu zügeln.
Eine reifere Dame, schmal und elegant, setzte sich neben
Theo.
»À votre santé!«
Er erwiderte auf gleiche Weise und lächelte ihr zu. Augen
wie ein Bergsee sahen ihn fragend an.
»Deutsch?«, fragte sie mit diesem niedlichen Einschlag, den
alle Franzosen besaßen.
»Lothringen! Die Mutter eine Französin, der Vater Deutscher,
und so bin ich weder das eine noch das andere, aber eigentlich beides.«
»Was für ein Zufall. Meine Großtante mütterlicherseits
stammt aus Bar-le-Duc. Woher stammen Sie genau?«
»Aus Bouzonville«, log Theo flink.
»Da war ich leider noch nicht. Ich selbst bin aus Marseille,
auch wenn ich stolz bin, mir nicht diesen primitiven Dialekt angewöhnt zu
haben.«
»Sie sprechen auf jeden Fall ein sehr gutes Deutsch. Sind
Sie öfter hier?«
»Öfter ist gut. Das La
Caravelle ist mein Lieblingslokal.«
Es stellte sich schnell heraus, dass Nicole nicht nur direkt
aus Marseille kam, sondern auch an Männerbekanntschaften interessiert war. Sie
rückte nah an ihn heran, und ihre Finger spielten eine Klaviatur auf seinen
Armen und Beinen, dass ihm ganz warm ums Herz wurde. Zu allem Überfluss ging
der Wein auf ihre Rechnung. Nicole gefiel ihm immer besser.
»Was halten Sie von der Gleichberechtigung?«, fragte sie.
»Hm, ich denke, Mann und Frau werden niemals gleich sein,
aber manche Unterschiede haben keine biologische Ursache und sollten
abgeschafft werden.«
»In Finnland dürfen Frauen wählen.«
»Eine gute Entscheidung.«
»Sind sie gläubig?«
»Ich habe eine katholische Erziehung genossen.«
»Also nicht sehr.«
Seine Antworten fielen auf fruchtbaren Boden. Theos
Glücksträhne schien sich fortzusetzen. Ihre Lippen berührten sich, und ein
verheißungsvoller Kuss schwemmte seine letzten Bedenken ins Meer.
Beim Walzer forderte er Nicole zum Tanz, und je weiter die
Nacht fortschritt, desto betrunkener wurde Theo. Er schwankte zur Toilette, und
als er zurückkam, musste er Nicole um eine Pause bitten, um auf dem Diwan
durchschnaufen zu können. Er nahm einen weiteren Schluck Rotwein und entschied,
sich erst einmal ein Wasser zu bestellen, um wieder einen klaren Kopf zu
bekommen.
Plötzlich wurden seine Lider schwer und eine bleierne
Müdigkeit packte ihn.
Er schreckte auf. Als erstes nahm er die Stille und die
Dunkelheit wahr. Das La Caravelle lag
verlassen wie ein Friedhof da. Kein Licht, keine Besucher. Seine Augenlider
waren schwer wie Blei, und in seinem Mund machte sich ein schaler Geschmack
breit.
Plötzlich fiel ihm sein Koffer ein, und er sprang hastig
auf. Doch seine Habseligkeiten und die Hälfte seines Geldvorrates waren
nirgends zu finden. Er tastete nach seinem Leibgürtel, kramte in dem
versteckten Fach und stieß erleichtert auf seine letzten 80 Franc.
Immerhin, die nächsten Tage würde er über die Runden kommen.
Weiter wollte er gar nicht denken.
Es dauerte ein wenig, bis er sich gesammelt hatte, doch nach
einer halben Stunde war es soweit, und über die Toilette fand er ein Fenster in
die Freiheit.
Am Horizont ging soeben die Sonne auf.
Gerade wollte er sich in die Altstadt stürzen, da spürte er
zwei kleine Gegenstände in der Innentasche seines Mantels.
Ein metallisches Ei, etwas schwer für sein Volumen. Theo
untersuchte den Gegenstand, konnte aber nichts Außergewöhnliches feststellen.
Die Oberfläche war fugenlos und glatt. Er schüttelte es, aber kein Ton drang
aus dem Innern.
Der zweite Gegenstand war ein Billet. Ausgestellt auf die Therapia. Abfahrt 20. Mai, 17:00 Uhr, 2.
Klasse.
Er dachte nach. Warum nicht? Er hatte nichts Besseres zu
tun. Und so beschloss er, erneut auf Reisen zu gehen. Schließlich interessierte
es ihn brennend, wie das Billet in seine Jackentasche gekommen war. Er würde
sich ein wenig in Form bringen und irgendwo einen neuen Koffer auftreiben. Auf
einem Schiff wie die Therapia würde
ihn mit Sicherheit niemand suchen.
Liebe Nicole, du wirst mir ein paar Fragen zu beantworten
haben.
Sie wollen weiterlesen? Die ganze Geschichte kann in Weltenportal Nr. 3 kostenfrei nachgelesen werden.
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