Frank Duwald zu Arthur Machen (Interview)
Michael Schmidt: Hallo Frank,
ich führe das Interview mit dir, aber es geht auch um Arthur Machen. Wer ist
Arthur Machen und was zeichnet ihn aus?
Frank Duwald: Arthur Machen ist zunächst einmal ein walisischer Autor, der zu seiner Zeit gleich zweimal in den Schlagzeilen war, jedoch auch genauso schnell wieder aus dem multiplen Gedächtnis verschwand. Für die meisten ist er heute – immer noch Dank H. P. Lovecrafts berühmter Studie zur Horror-Literatur – ein Horror-Autor. Für die allerdings, die ihre Sensoren weiter ausfahren, ist er weit mehr als das, da grob geschätzt etwa die Hälfte seines erzählenden Werkes kein Horror ist sondern eher als eine Art mystische Phantastik bezeichnet werden könnte.
Was Machen in meinen Augen definitiv ist, ist ein Kult-Autor. Sein Werk wird seit Jahrzehnten ausgiebig gesichtet und erforscht, und für alle, die da in irgendeiner Form mitmischen, ist er deutlich mehr als nur ein Autor von unterhaltsamer Literatur, wohl auch deshalb, weil er eine eigene Lebens- und Glaubensphilosophie mitbringt, die man so nicht kennt. Tja, was zeichnet ihn nun aus? Da gibt es viele Sichtweisen. Für mich persönlich hat es T. E. D. Klein auf den Punkt gebracht, als er einmal in einem Interview sinngemäß sagte, dass ihn neben dem Düsteren insbesondere die Schönheit in Machens Werk anspreche. Das würde ich so unterschreiben, denn Schönheit in schauriger Literatur ist einfach Mangelware, gehört für mich persönlich aber dazu, weil dadurch viel stärkere Kontraste entstehen.
Michael Schmidt: Der größte
Teil seines Werkes ist in sechs Bänden auf Deutsch erschienen. Welches sind
davon seine Meisterwerke?
Frank Duwald: Das ist natürlich,
wie gerade schon angerissen, Ansichtssache. Für Horror-Fans sind insbesondere
Sachen wie „Der Große Pan“ und Die drei Häscher relevant und auch am
berühmtesten. Das sind sicherlich maßgebliche Werke, aber sie sind stellenweise
noch nicht so ganz ausgereift, der Zufall wird in den Plots zu sehr
überstrapaziert. Vom literarischen
Standpunkt aus, halte ich persönlich erst spätere Werke, allen voran Der Berg der Träume und „Die weißen Gestalten“ für echte Meisterwerke aus der
Elfenbein-Ausgabe, und das nicht nur auf Genreliteratur begrenzt, sondern auf
die gesamte Literatur bezogen. Trotzdem tauchen sie in keinem maßgeblichen
Kanon auf, was auch zeigt, dass die Herrscher der Literaturkritik Machen nie
wirklich auf dem Schirm hatten. Umso kostbarer ist er für die kleiner Gruppe
seiner Bewunderer.
Michael Schmidt: Es gibt auch
noch recht umfangreiche unübersetzte Werke. Denen hast du dich angenommen und
diese übersetzt. Stell dich doch den Lesern mal vor. Wer ist Frank Duwald und
was sind seine Vorlieben in der Literatur?
Frank Duwald: Ich bin jetzt schon
seit gut vier Jahrzehnten in irgendeiner Form in Sachen Literatur unterwegs und
habe vieles ausprobiert. Von Buchrezensionen über Autorenporträts, diversen
Herausgeberschaften, eigenen Erzählungen und jetzt Übersetzen ist da eigentlich
alles dabei. Ich habe für Profipublikationen geschrieben (z.B. Wolfgang
Jeschkes Science Fiction Jahr), bin aber immer der Semi-Pro-Szene
(früher nannte man sie „Fandom“) von Herzen verbunden geblieben. Ich lese
wirklich alles an erzählender Literatur, habe mit großer Freude freiwillig
viele der Werke der Weltliteratur gelesen, zu denen Literaturstudenten
gezwungen werden müssen – aber am allermeisten liebe ich eine bestimmte Form
der phantastischen Literatur, nämlich Texte, in denen das Phantastische langsam
in die Realität eindringt. Leider gibt es davon nicht viele.
Michael Schmidt: Übersetzer
werden ja immer ein wenig stiefmütterlich behandelt. Wurmt dich das als
Übersetzer?
Frank Duwald: Ich muss mich noch etwas daran gewöhnen, dass ich mich jetzt auch Übersetzer nennen darf. Ich kann da noch nicht so wirklich mitreden, da ich nur aus reinem Eigennutz zum Übersetzer wurde, weil ich nach Jahrzehnten des Wartens endlich unbedingt entspannt die nicht übersetzten Werke von Arthur Machen auf Deutsch lesen wollte.
Dass ich nach reinen KI-Software-Übersetzungen zum besseren Eigenverständnis tatsächlich nochmal bei Null begann und anfing sie „richtig“ zu übersetzen, war eher ein ungeplanter Unfall. Mir sind aber insbesondere zwei Sachen klargeworden, je mehr ich von Machen übersetzte. Die erste Erkenntnis ist, dass man irgendwann merkt, welche Verantwortung man als Übersetzer trägt. Macht man es vernünftig, gibt man der Leserschaft über mindestens eine Generation ein deutsches Gesicht eines fremdsprachigen Autors in die Hand. Verkackt man es, ist das Buch für mindestens eine Generation (meist eher länger) versaut.
Man braucht ja nur an die Insel-Übersetzungen von Algernon Blackwood und J. Sheridan Le Fanu denken: so viele Erzählungsbände für so viele Jahrzehnte verbrannt, weil ein Übersetzer seine Ego-Probleme nicht im Griff hatte und meinte, es besser machen zu müssen als der Autor.
Die zweite Erkenntnis ist, dass es sich wirklich sehr positiv auswirkt, wenn ein literarischer Autor immer von demselben Übersetzer übertragen wird. Wenn man, wie ich, sehr tief in das ganze Universum des Autors einsteigt, versteht man ihn zunehmend besser, ahnt manche Sachen irgendwann intuitiv schon voraus. Wenn also ein Verlag einen festen Übersetzer für einen bestimmten Autor an der Hand hat, ist das schon ein gewisses Kapital, das man zu schätzen wissen sollte. Wenn ich das alles zusammenrechne, ja, dann denke ich schon, dass Übersetzer in Deutschland nicht ganz so gut behandelt werden wie sie behandelt werden sollten.
Im englischsprachigen Markt haben Übersetzer einen deutlich höheren Stellenwert, da werden sie auf den Covern und beispielsweise in Empfehlungslisten namentlich mit benannt, weil man dort viel mehr wertschätzt, dass Übersetzer für viele Menschen sprachlich unlesbare Werke lesbar machen. In Deutschland gibt es Ausnahmen, z.B. Dörlemann, die auch den Übersetzernamen auf der Titelseite drucken.
Eine weitere Form von Respektlosigkeit gegenüber
deutschen Übersetzern ist meines Erachtens der üble Trend, Klassiker durch die
Übersetzungen zu modernisieren und modernen Lesegewohnheiten anzugleichen. Wenn
ich schon lese, dass eine Neuübersetzung das Original „entschlackt“ hat und
endlich flüssig zu lesen sei, weiß ich schon Bescheid. Ich habe gerade eine
Neuübersetzung eines Phantastik-Klassikers gelesen, von dem es schon sehr gute
deutsche Übersetzungen gab. In dieser Neuübersetzung wurden Wörter wie
»escapist« und »sinister« nicht etwa wörtlich übersetzt, obwohl es eindeutige
deutsche Entsprechungen gibt, sondern sie wurden belehrend erklärend
übertragen. Ich glaube, dass so etwas verlagsgesteuert ist, gerade so, als
möchte man seine Leser nicht mit solchen nicht unbedingt gängigen Wörtern
belasten und ihnen das Essen lieber restlos vorkauen, weil sie einfach zu doof
seien, so etwas unzerkaut zu schlucken. Schrecklich! Das erinnert mich an die
Kinderbuchbearbeitungen gängiger Klassiker. Aber das ist ein Trend, der nicht
aufzuhalten ist.
Michael Schmidt: EinFragment des Lebens und andere Erzählungen heißt der Band mit Geschichten
von Arthur Machen, die bis auf zwei kleine Texte, die in Zwielicht
abgedruckt wurden, zum ersten Mal auf Deutsch erschienen. Nach welchen
Kriterien hast du die Texte ausgewählt?
Frank Duwald: Ich habe da nicht
die geringste wertmäßige Einschätzung angewendet, sondern ausschließlich nach
Werk-Chronologie entschieden. Ein Autor wie Arthur Machen, der derart wichtige
Werke geschrieben hat, verdient meiner Meinung nach eine komplette Werkausgabe,
auch wenn er, wie Machen, durchaus auch mal schwächere Texte abgeliefert hat.
Beim Übersetzen ist mir erst richtig klargeworden, wie sehr viele Texte Machens
thematisch miteinander korrespondieren. Das wird aber erst deutlich, wenn man
sie wirklich alle lesen kann. Daher habe ich einfach vorn angefangen (seine ganz
frühen Texte, die er in mittelalterlicher Sprache schrieb, einmal außen vor)
und alle rausgepickt, die noch nicht auf Deutsch erschienen sind. Daher liegt
mit Ein Fragment des Lebens und andere Erzählungen nun ein erster
Schaffensabschnitt komplett auf Deutsch vor.
Michael Schmidt: „Ein Fragment des Lebens“ ist die längste Geschichte im Band. Was macht den besonderen Reiz der Geschichte aus und wann erschien sie im Original?
Frank Duwald: „Ein Fragment des Lebens“ erschien 1904. Diese sehr lange Novelle verfolgt mich schon seit
Jahrzehnten. Es muss mindestens 25 Jahre her sein, dass ich mich in Essen zu
einem Pläuschchen mit Marco Frenschkowski traf, der gerade beruflich in der
Nähe war, und wir auch über Machen redeten, von dem er damals äußerst exquisites
Material besaß. Er sagte mir, dass „Ein Fragment des Lebens“ genau mein Ding
sein müsse, weil da, wie schon in Der Berg der Träume sehr viel
englische und walisische Landschaftsschönheit im krassen Kontrast zum
realistischen London eine große Rolle spiele. Seitdem versuchte ich den Text
mehrmals im Original zu verstehen, aber so richtig gematcht hat es auf diese
Weise nicht, weil es halt kein Englisch ist, das man mal so eben runterliest.
Durch die Übersetzung kenne ich jetzt natürlich jedes Bausteinchen, und ich
kann für mich sagen, dass die Geschichte praktisch der Prototyp für die Art
Literatur ist, die ich über alles liebe. Im Grunde genommen handelt es sich um
eine sehr spezielle Aussteigergeschichte um den Stadtangestellten Edward
Darnell, der sich zunehmend von langweiligen Routinen aus Arbeiten,
Nachbarschaftstratsch, Durchkauen familiärer Probleme, Finanzproblemen etc.
erdrückt fühlt. Er findet aber seltsame Anzeichen vor, dass es noch eine
andere, tiefgründigere Welt gibt, und so erhält er zunehmend Visionen der
friedvollen und mystischen walisischen Waldlandschaft, die ihn in ihren Bann
ziehen. Die Geschichte ist zeitweise mit ihren realistischen Belanglosigkeiten
etwas mühsam, aber genau dadurch gelingt Machen die enorme Kraft, die der
Wechsel in die mystische Landschaft ausstrahlt.
Michael Schmidt: „Ornamente in Jade“ ist ebenfalls ein ganz spezieller Geschichtenzyklus…
Frank Duwald: Ja, das ist ein ähnlich gelagerter Fall. Auch hier war es Marco Frenschkowski, der eine jahrzehntelange Neugier in mir erweckte. Er veröffentliche 1994 in der ersten Nummer seines vorzüglichen Magazins Das schwarze Geheimnis (Hier ein Link zu Band 4) zwei der Minigeschichten aus „Ornamente in Jade“ in deutscher Übersetzung. (Anmerkung: Zufinden auch in der Sammlung Phantasmen). Ich dachte mir damals, dass derart kurze Geschichtchen nichts sein könnten, war aber umso faszinierter als ich sie las. Was in diesem bisschen Text alles drin war, fand ich enorm. Enorm fand ich auch den sexuellen Tabubruch, der unter den harmlosen Zeilen von „Die Zeremonie“ schlummert. Und so ist der ganze Band gestrickt. Kurze Texte in einer teils wunderschönen Sprache, unter deren Oberfläche Abgründe schlummern, wenn man genau hinkuckt. „Ornamente in Jade“ war übrigens der mit Abstand schwierigste Teil der Übersetzung.
Michael Schmidt: Im Band ist
auch ein Essay zum Autor enthalten. Wie bist du an diesen Text gekommen und
umreiße doch mal, worum es da geht?
Frank Duwald: Ich habe
tonnenweise sekundärliterarisches Material zu Arthur Machen, sowohl in
Papierform als auch auf meiner Festplatte. Einer dieser Artikel, nämlich Nick
Freemans „Arthur Machen – Ekstase und Epiphanie“ widmet sich den beiden im
Titel genannten Hauptthemen Machens und bietet wertvolle Grundlagen und
Hintergründe zum besseren Verständnis von dem, was Machen beim Schreiben
antrieb. Der Artikel erschien zunächst in einer „akademischen“ Version mit
Fußnoten bis zum Abwinken. Später überarbeitete Nick den Artikel für eine
lesbarere Version, die ich auch für die Übersetzung zugrunde gelegt habe. Den
Artikel zu bekommen war erstaunlich einfach. Nachdem ich mit Nick, der Dozent
an einer Universität und Buchautor ist, in Kontakt getreten war, fand er es
sehr cool, zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt zu werden und gab mir sofort
die Genehmigung. Dabei ist mir wie schon so oft deutlich geworden, dass gerade
die Menschen, die wirklich etwas draufhaben und das auch wissen, oft die
Nettesten und Unkompliziertesten überhaupt sind.
Michael Schmidt: Gibt es noch
weitere unübersetzte Texte des Autors und dürfen wir uns somit auf einen
weiteren Band freuen?
Frank Duwald: Ja, es gibt noch
viele weitere unübersetzte Erzählungen Machens. Ich schätze, dass sie noch
locker zwei weitere Bände füllen würden. Gerade sein Spätwerk ist noch so gut
wie gar nicht erschlossen. Ob man sich auf einen weiteren Band freuen darf:
naja, einen zaghaften Hinweis habe ich ja schon in der Vorbemerkung des
jetzigen Bandes gegeben, indem ich von „einem ersten Band“ spreche. Ich halte
mir das aus Selbstschutz aber noch offen, da ich leider dazu neige, oft große
Pläne zu machen, um dann irgendwann die Lust daran zu verlieren. Zu einem
zweiten Band ist aber insgeheim bereits übergeleitet worden, schon allein
dadurch, dass Nick Freeman in seinem Essay auch The Secret Glory und The
Great Return bespricht, die für mich ebenfalls noch ein absolutes Muss für
eine Erstübersetzung sind. Wobei es mir bei The Secret Glory nicht um
den ganzen Roman geht (der ja bei Elfenbein als Der geheime Glanz
vorliegt), sondern um die beiden gekürzten Kapitel, die in der
Elfenbein-Ausgabe fehlen (zur Erklärung: The Secret Glory besteht in der
ungekürzten Originalausgabe aus den Kapiteln 1 – 6, die deutsche Übersetzung
bei Elfenbein enthält aber nur Kapitel 1 - 4). Insofern, so lange man mich für
den ersten Band nicht mit Katzenscheiße beschmeißt, muss ich einen
zweiten Band eigentlich machen. Tatsächlich geistert da schon ein Buch mit dem
Titel Die große Rückkehr und andere Erzählungen in meinem Kopf herum.
Michael Schmidt: Du übersetzt
Arthur Machen, aber auch dein Blog dandelion befasst sich überwiegend mit
Texten aus der Vergangenheit. Was macht für dich den Reiz dieser Epoche aus und
wo siehst du den Hauptunterschied zu zeitgenössischen Texten?
Frank Duwald: Ich habe sehr lange
gebraucht, mich an Klassikern zu versuchen, weil sie mir anfangs zu steif und
zu langatmig geschrieben waren. Ich habe aber gerade das immer mehr zu schätzen
gelernt. Das Verrückte ist ja, dass eigentlich wir modernen Menschen viel mehr
Zeit haben müssten als die vergangenen Damen und Herren. Der technische
Fortschritt nimmt uns soviel Arbeit ab, die früher mit Muskelkraft erledigt
werden musste. Tatsächlich waren es aber die Autoren der Vergangenheit, die
sich die nötige Zeit ließen, in ihren Geschichten Stimmungen aufzubauen und
Charaktere zu entwickeln, etwas worum sich heutzutage die wenigsten Autoren scheren.
Diese gewisse Gemütlichkeit, eine Geschichte atmen zu lassen, haben viele
moderne Schriftsteller völlig verlernt. Hinzu kommt für mich auch, dass die
wirklich guten Autoren der Vergangenheit zu einem sehr großen Teil einfach
stilistisch besser waren als eine große Masse der heutigen Hektiker. Ein
weiterer Faktor ist noch, dass heutzutage ja praktisch alles
entmystifiziert ist. Das war beispielsweise bei den Viktorianern natürlich
überhaupt nicht der Fall. Da mussten etwa „abweichende“ Gedanken kodiert
werden, weil man es einfach nicht riskieren konnte, auszusprechen, dass man
z.B. lesbisch oder schwul war. Auch das macht meiner Meinung nach viele
klassische Werke viel tiefgründiger, subtiler und geheimnisvoller als man das
in moderner Literatur erlebt.
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