Nina Allan - Interview



Michael Schmidt: Hallo Nina, stell dich den deutschen Lesern doch mal kurz vor.

Nina Allan: Hallo Allerseits! Ich bin in Whitechapel, in East London, geboren und habe im Alter von 6 Jahren mit dem Schreiben angefangen. Ich habe russische Literatur studiert und schrieb meine Abschlussarbeit über Vladimir Nabokov. Auf meiner ersten veröffentlichten Geschichte in 2002 folgten 50 weitere die in Anthologien und Magazinen erschienen sind. Dazu gibt es vier Kurzgeschichtensammlungen aus meiner Feder. Ich lebe und arbeite in der mittelgroßen Küstenstadt Hastings an der Südküste Englands, am bekanntesten durch die Schlacht bei Hastings, bei der William der Eroberer König Harold im Jahr 1066 besiegte und tötete.

Michael Schmidt: So weit ich weiß hast du drei Geschichten in Deutschland veröffentlicht. “Angelus” im Phantastik Magazin “Phase X 8”, “Im Angesicht Gottes fliegen“ (Flying in the Face of God’) in Phase X 9, und demnächst “Meines Bruders Hüter” (My Brother’s Keeper) im Fantasyguide Jahrbuch “Am Ende des Regens”. Gibt es noch mehr?

Nina Allan: Ich weiß von keinen. Ich hoffe natürlich, dass die Übersetzung von “Meines Bruders Hüter” mir die Aufmerksamkeit der deutschen Leser bringt und dadurch vielleicht mehr Übersetzungen folgen werden.

Michael Schmidt: Deine Geschichten kann man als mystische Science Fiction einordnen. Stimmst du zu?

Nina Allan: Ja, “mystisch” ist eine angemessene Bezeichnung und charakterisiert das ganz gut. Leser und Kritiker sprechen oft davon, dass meinen Geschichten die Nähe des Übernatürlichen anhaftet und sie das Grenzland der Science Fiction bevölkern. Ich neige dazu, die Genreelemente in meinen Geschichten unter zu repräsentieren, weil ich das Gefühl habe, dass das phantastische Element viel wirksamer wird, wenn ich es sparsamer einsetze. Wenn die Leser das Gefühl haben, sich in einer ihnen bekannten Welt zu bewegen, ist das Überraschungsmoment viel größer und damit auch die Wirkung. Ich mag die Doppeldeutigkeit meiner Geschichten – das Gefühl, dass alles so auch hätte passieren können.

Michael Schmidt: Was ist die Idee hinter “Meines Bruders Hüter”?

Nina Allan: “Meines Bruders Hüter” ist die zweite von vier miteinander verbundenen Geschichten, aus denen meine Sammlung The Silver Wind (2011) entstand. Jede Geschichte kann für sich selbst gelesen werden, aber wenn man sie zusammen liest, wird man feststellen, sie beinhalten alle den gleichen Charakter, der unterschiedliche Rollen in parallelen Universen übernimmt. Jede Geschichte erforscht das Wesen der Zeit und den Einfluss, den ihr Fortschreiten auf uns hat. “Meines Bruders Hüter” handelt von Geheimnissen und die Art und Weise, wie Fakten über unser Leben manipuliert bzw. verschwiegen werden. Es ist ebenso eine Geschichte über Brüder. Die Beziehungen von Geschwistern sind etwas, das ich oft in meinen Geschichten thematisiere, die unvermeidlich enge Bindung, die sie durch eine gemeinsame Vergangenheit besitzen und der zwangsläufige Konflikt, der sich daraus ergibt. Das fasziniert mich immer wieder.

Michael Schmidt: Ich denke beide Geschichten, “Meines Bruders Hüter” und “Angelus” haben dieses spezielle Küstenflair. Liebst du die See?



Coverillustration von Stardust


Nina Allan: Definitiv. Ich bin in West Sussex aufgewachsen, wo du niemals länger als 20 Minuten fahren musst, um die Küste zu erreichen, und von meiner Großmutter mütterlicherseits in Worthing, mit der ich in meiner Kindheit eng verbunden war, waren es nur 5 Minuten zu Fuß bis zur See. Ich habe das Schwimmen mit 5 erlernt und war eine richtige Wasserratte. Die Natur der Küste sowie das unvergleichliche Gefühl von Freiheit, dass mich immer beim Betrachten der See überkommt, ist immer noch extrem wichtig für mich, aber es ist auch das Flair der britischen Küstenstädte, die viktorianische Architektur des typischen Hafenstädtchen, das erhebende Gefühl, ein Teil dieser wundervollen Welt zu sein. Wenn die Menschen an die See denken werden sie immer nostalgisch – denken an längst vergangene Urlaube oder an ihre Kindheit oder die Vergangenheit im Allgemeinen. Nichts rührt dermaßen intensiv an nachhaltigen Erinnerungen, was die Hauptinspiration in meinem Schreiben ist.

Michael Schmidt: Einige deutschsprachige Leser lesen auch Geschichten auf Englisch. Welches deiner Bücher würdest du Ihnen besonders ans Herz legen?


Nina Allan: Ich denke, ich würde den deutschen Lesern vor allem meine neue Sammlung Stardust ans Herz legen. Oder The Silver Wind, die Sammlungen mit den vernetzten Geschichten, die aber auch einzeln gelesen werden können, aber erst in ihrer Gesamtheit ihren vollständigen Zauber verströmen. Dort ist eine Novelle enthalten mit dem Titel The Gateway, die handelt von einer bleibenden Freundschaft zwischen einem deutschen Studenten und einem englischen Buchhändler. Die Geschichte spielt überwiegend an der Baltischen Küste eines Deutschlands in den 1930er Jahren und handelt von einem verlorenen Kinde – und wieder mal – zwei Schreiner Brüdern, die ausgefallenes Zirkusequipment herstellen. Die Geschichte wurde inspiriert von einer Reise, die ich vor ein paar Jahren gemacht habe, ich war in Goslar und Wernigerode im Harz, und ich habe es sehr genossen, diese Geschichte zu schreiben. Ich hoffe auch, dass die deutschen Leser meine aktuelle Novelle namens Spin mögen, eine Science Fiction Neuerzählung der griechischen Mythengeschichte der Arachne.

Coverillustration von Spin
Michael Schmidt: Sind weitere Übersetzungen deiner Geschichten ins Deutsche geplant?

Nina Allan: Das hängt wirklich von den deutschen Lesern ab. Eine französische Übersetzung von The Silver Wind, Complications, wird im August 2013 erscheinen und das ist dem französischen Übersetzer zu verdanken, der meine Geschichten aus dem britischen Magazin Interzone kannte und mich fragte, ob er sie für den französischen Markt übersetzen dürfte. Es wäre natürlich toll, wenn einige meiner Geschichten einen deutschen Übersetzer ebenso beeindrucken und vielleicht den gleichen Weg gehen würden.

Michael Schmidt: Alle drei deutschen Übersetzungen kamen durch den unermüdlichen Einsatz von Ulrich Blode zustande.

Wir wünschen dir an dieser Stelle viel Glück und uns weiteren Lesestofff. Gibt es Autoren, die dir als Vorbild dienten?

Nina Allan: Es gibt so viele wunderbare Autoren, in der Vergangenheit sowie in der Gegenwart, da ist es schwer nur einige zu nennen, von denen man beeinflusst wurde. Aber ich bewundere das Werk von Joyce Carol Oates, Iris Murdoch, J. G. Ballard, Kelly Link, M. John Harrison, Christopher Priest und im Moment lese ich eine Menge von Roberto Bolano. Von den deutschen Autoren liebe ich Daniel Kehlmann, Peter Stamm, Ingeborg Bachmann, Judith Hermann, Jenny Erpenbeck und Thomas Bernhard. Thomas Mann’s Doktor Faustus ist einer meiner Lieblingsromane.

Michael Schmidt: Schreibst du ausschließlich Science Fiction?

Nina Allan: Nicht alles fällt hundertprozentig unter Science Fiction. Aber ich kann mir nicht vorstelle, etwas zu schreiben, dass überhaupt kein phantastisches Element enthält.

Michael Schmidt: An welchen Projekten arbeitest du gerade bzw. planst du für die nähere Zukunft?

Nina Allan: Soeben habe ich den Roman The Race (Das Rennen) vollendet, Er spielt einerseits in der Gegenwart, andererseits in einer Alternativwelt, eine Science Fiction Version von Südostengland, wo Umweltverschmutzung und globale Erwärmung viele Veränderungen verursacht haben. Und ich habe gerade erst mit der Arbeit an einem brandneuen Roman begonnen. Es handelt sich um eine Kriminalgeschichte, die ein paar Science Fiction Elemente enthält. Das Projekt ist so neu es, hat noch nicht mal einen Titel. Aber ich bin ganz aufgeregt, die Geschichte zu schreiben.

Michael Schmidt: Vielleicht ein paar Worte an die deutschen Leser.

Nina Allan: Ich möchte einfach nur sagen, wie wundervoll es ist, dass meine Geschichten den Weg ins Deutsche geschafft haben. Ich habe eine starke Affinität zur deutschen Musik, zur deutschen Literatur und zu den beeindruckenden und abwechslungsreichen Landschaften Deutschlands. So empfinde ich es als absolutes Privileg mit meinen Geschichten zu den deutschen Lesern sprechen zu können. Ich hoffe, ihr alle genießt ‘Meines Bruders Hüter’.

Michael Schmidt: Nina, wir danken dir für das Gespräch.

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