Leseprobe Achim Hildebrand (Am Ende des Regens)

Am Ende des Regens" ist bei www.pmachinery.de erschienen.
Zeit, eine Leseprobe aus der SF Anthologie vorzustellen. Autor ist Achim Hildebrand.
1.
Prelude - Allegro tonando
Der Sturm hatte etwas vom Toben eines urweltlichen Monstrums, das mit den Augen Blitze versprühte und dessen Brüllen den Boden erzittern ließ. Windböen droschen dumpf wie Vorschlaghämmer auf die Polymerbetonwände der Station ein und peitschten die Hagelkörner wie Geschossgarben gegen die Außenfenster. Diese waren zwar bruchsicher, aber für einen Fremden war es trotzdem nicht leicht, angesichts dieses Infernos das Vertrauen in die Sicherheit der Station zu behalten.
Miko Kanazawa hatte das schon viele Male erlebt und nippte weiterhin gelassen an ihrem Tee, während ihre Besucherin in respektvollem Abstand vor einem der großen Außenfenster stand und sichtlich beunruhigt das brodelnde Chaos draußen beobachtete.
»Das ist ja furchtbar«, sagte diese leise. »Wie lange kann denn das anhalten?«
»Kann man nicht sagen,« Miko zuckte die Achseln. »Außer dieser Forschungsstation haben wir nichts auf diesem Planeten, keine Wetterstationen, keine Satelliten im Orbit und keine Bauern mit Bauernregeln. Man muss einfach abwarten und …«, sie hob lächelnd ihre Tasse an, »… Tee trinken.«
»Ist aber schon beängstigend. Als ich vor einer Viertelstunde hier ankam, war die Lagune die reinste Idylle. Ich wollte mich schon drüber ärgern, dass ich keine Sonnencreme dabei habe.«

»Die Astronomen sagen, es liegt daran, dass die Rotationsachse von Neu-Trinidad stärker schlingert als die der Erde. Dadurch befindet sich ständig ein wenig mehr Energie in der Atmosphäre und alles ist wilder und unberechenbarer – die Meeresströmungen, das Wetter … Aber sonst ist es ein recht gastlicher kleiner Planet. Man kann sich hier sehr wohl fühlen und der UV-Anteil des Sonnenlichts ist so gering, dass man nicht mal einen Sonnenschutz braucht.« Miko stellte die Teetasse auf einem der Labortische ab und fuhr fort: »Die Projektleitung hat Sie mir zwar angekündigt, aber ich habe mir Ihren Namen nicht gemerkt. Entschuldigen Sie bitte, aber mittlerweile arbeiten fast hundertfünfzig Leute hier und es kommen fast jeden Tag neue dazu.«
Die kleine Frau wandte sich vom Fenster ab. »Nein, Sie müssen entschuldigen, aber der plötzliche Sturm hat mich ein wenig aus dem Konzept gebracht.« Auf den ersten Blick wirkte sie auf Sonja eher unscheinbar - blass und irgendwie brav, aber in den hellen Augen hinter ihrer randlosen Brille lag ein eigentümlich lebendiges Leuchten, das diesen ersten Eindruck durchaus in Frage stellte.
Sie reichte Miko die Hand, eine winzige Hand mit kurzen, rundlichen Fingern. »Sonja, Sonja Herendals ist mein Name.«
»Miko Kanazawa. Sie sind hier, um de Marignys Tod zu untersuchen, nicht wahr?«, fragte Miko, während sie sich Sonjas Pilotenjacke geben ließ und diese an eine improvisierte Garderobe hängte.
»Naja, mehr oder weniger.« Es klang ein wenig verlegen.
»Und wer schickt Sie? Ich weiß, ich bin sehr neugierig, aber man hat mir noch überhaupt keine Informationen über Sie … oh, und unhöflich bin ich auch – darf ich Ihnen einen Tee anbieten? Oder etwas anderes?«
»Nein danke, ist schon recht.« Sonja schüttelte ihre Pagenfrisur. »Ich gehöre zu einem Anhängsel des Wirtschaftsministeriums Abteilung Nexialismus nennt man uns. Eigentlich sind wir befasst mit der Untersuchung von Kommunikationskonflikten und strukturellen Störungen in ökologischen Systemen. Aber man schickt uns auch gern, wenn sich sonst niemand zuständig fühlt – oder weiter weiß«, fügte sie mit unverkennbarem Stolz hinzu; und dann, als habe sie in Mikos Blick eine unausgesprochene Frage gelesen: »Ich bin übrigens nicht als Inquisitorin gekommen. De Marignys Tod ist wohl hinreichend geklärt. Ich bin hier, um ein wenig erweiterte Motivforschung zu betreiben.«
»Nexi… was sagten Sie?«, fragte Miko stirnrunzelnd.
Sonja lachte, als hätte sie diese Frage schon erwartet.
»Nexialismus. Das heißt soviel wie angewandte Ganzheitslehre. Eigentlich ein Begriff aus alten Science-Fiction-Geschichten. Ein Autor namens van Vogt hat sich das ausgedacht – vor vierhundert Jahren. Aber seit einiger Zeit arbeitet man wieder daran, dieses Prinzip in die Praxis umzusetzen. Im Grunde versuchen wir nichts anderes, als bei der Lösung von Problemen alle Randbedingungen und möglichen Vernetzungen interdisziplinär mit zu berücksichtigen.«
Mikos Gesicht hellte sich auf.
»Ah, dann sind sie wohl so etwas, wie das Gegenteil von einem Fachidioten?«
»Treffender hätte ich es auch nicht ausdrücken können. Diese Erklärung werde ich mir merken. Wir sind, platt gesagt, Generalisten; und außerdem billiger als ›richtige‹ Experten.«
»Kann man das studieren?«, fragte Miko
»Äh, nein«, Sonja grinste schelmisch. »Ich lese, was ich in die Finger kriege, nehme es mehr oder weniger unsystematisch in mich auf und freue mich, wenn ich es irgendwann mal gebrauchen kann.«
»Hört sich nach einem sehr inter…«, Miko wurde durch eine schemenhafte Bewegung in ihrem Augenwinkel abgelenkt. Sie drehte sich um. »Ah, da sehen Sie: Das machen sie immer, wenn das Wetter schlecht wird.« Sie zeigte auf ein gläsernes Becken in der Mitte des Labors, welches etwa drei mal drei Meter des Fußbodens einnahm und halb so hoch war. Es war eingerichtet wie ein Feuchtterrarium, aber nach oben durch eine Glasplatte verschlossen. Das kaum wahrnehmbare bläuliche Schimmern eines Stasisfeldes ließ vermuten, dass man der Abdeckplatte allein nicht traute. Es musste sich etwas darin befinden, das auf keinen Fall herausgelangen durfte. Sonja folgte Miko und trat näher an das Becken heran. Etwa ein Drittel seiner Fläche bestand aus einer kiesigen Landzone. Der Rest war knietiefes Wasser. Sonja musste zweimal hinsehen, bevor sie erkannte, was Miko gemeint hatte.
Auf der Kiesfläche lagerte ein Klumpen Gallert, etwa so groß wie ein Halloween-Kürbis. Aber er hatte keine eigentliche Farbe sondern war fast transparent, sodass er sich von dem dunklen, feuchten Kies kaum abhob. Mit pumpenden Bewegungen veränderte er ständig geringfügig seine Form und bewegte sich Zentimeter für Zentimeter auf die Wasserzone zu.
»Sie halten sich gerne an Land auf, aber sobald das Wetter schlecht wird, verkriechen sie sich unter Wasser«, sagte Miko.
»Was ist das?«, fragte Sonja. Schleimige Gallertklumpen gehörten nicht zu ihren Lieblingstieren.
»Najaah, der Kommissar im Film sagt ja immer: Findet das Motiv und wir haben den Mörder. Hier ist der Mörder, aber er hat uns noch nichts über sein Motiv erzählt.«
»Dieses Ding da hat …?«
»Nicht dieses da, aber wohl einige seiner Artgenossen. Die Leute vom technischen Service haben sie übrigens Glibberbags getauft, weil sie aussehen wie Mülleimerbeutel voll Gelatine. Nein, de Marigny war hinunter zum Strand gegangen, um sich in die Sonne zu legen. Er blieb so lange weg, bis wir nach ihm suchten. Alles was wir fanden, war sein Skelett – und Reste einer breiigen, feuchten Masse.«
»Haben Sie diese Masse untersucht?«
»Natürlich. Es waren menschliche Zellen - de Marignys Zellen. Die DNS-Analyse hat das eindeutig bewiesen. Aber sie waren, wie soll ich sagen – vereinzelt worden. Verstehen Sie, normalerweise bilden Zellen feste Verbände, je nach ihrer Funktion. Leberzellen bilden eine Leber, Muskelzellen einen Muskel und so weiter. Bei de Marignys Überresten aber hafteten keine zwei Zellen mehr zusammen. Es war, als hätte man eine Bakterienkultur aus einer Nährlösung abfiltriert.«
»Hört sich schlimm an.« Sonja verzog wieder das Gesicht.
»Aber das Seltsamste daran war: Der allergrößte Teil dieser Zellen lebte noch. Sie bewegten und teilten sich, wie primitive Einzeller. Ich meine, üblicherweise stirbt eine Zelle, sobald sie aus ihrem Verband entfernt wird und der zugehörige Organismus sie nicht mehr ernährt - oder eine künstliche Nährlösung. Wir glaubten zunächst, dass die Glibberbags de Marigny durch Verdauungssekrete quasi aufgelöst hätten, um ihn als Nahrung aufzunehmen. Aber die Tatsache, dass seine Zellen noch lebten, spricht eigentlich dagegen. Außerdem: Die Glibberbags fressen nicht.«
»Stark«, sagte Sonja. Sie schaute erschrocken zu Miko auf. »Entschuldigung, ich meinte: Abgesehen davon, dass es de Marigny das Leben gekostet hat, hört sich das nach einem sehr faszinierenden Problem an. Und Sie sind völlig sicher, dass diese Glibberbags für seinen Tod verantwortlich sind?«
Miko seufzte.
»So sicher, wie man nur sein kann. Sie sind die einzigen lebendigen Organismen dieses Planeten. Und irgendein Naturphänomen, das dafür verantwortlich sein könnte, haben wir bis jetzt nicht beobachtet. Außerdem haben wir um de Marignys Überreste herum Dutzende ihrer Kriechspuren gefunden.«
»War das das erste Mal, oder haben sich die Glibberbags schon bei anderen Gelegenheiten aggressiv gezeigt?«, fragte Sonja.
Miko schüttelte den Kopf.
»Bisher gab es keine vergleichbaren Situationen. Wir sind nie ohne unsere Schutzanzüge rausgegangen und haben den direkten Kontakt mit ihnen vermieden. Außer bei denen, die wir gefangen haben. Und das haben wir natürlich auch unter strengsten Schutzvorkehrungen durchgeführt – schon um sie nicht zu verletzen, ihre Außenhaut ist sehr dünn. Außerdem sind die Glibberbags an Land ausgesprochen langsam, kaum schneller als Schnecken. Es war ja gerade diese offensichtliche Harmlosigkeit, und die Tatsache, dass sie einem gar nicht gefährlich werden konnten, derentwegen de Marigny einfach an den Strand gegangen ist und sich in die Sonne gelegt hat. Keiner von uns hatte was dagegen, keiner hat auch nur ›Pass aber auf‹ gesagt. Gut, im Wasser sind sie sehr viel beweglicher, aber es ist auch verboten, ins Wasser zu gehen. Wir sind zwar ziemlich sicher, dass sie die einzige Lebensform dieses Planeten sind, aber eben nicht zu hundert Prozent. Vielleicht gibt es im Meer doch noch Organismen, von denen wir bisher nichts wissen.«
»Aber de Marigny war auch der erste, der das gemacht hat? Ohne Schutzanzug hinausgehen, meine ich.«
»Nun … ja.«
Sonja zog die Nase kraus und kratzte sich an deren Spitze.
»Haben Sie mal eine Blindprobe durchgeführt?«
»Blindprobe?«
»Na, geprüft, ob die Glibberbags sich immer so verhalten? Mit einem Labortier, meine ich – einer Ratte oder einem Karnickel.«
»Eh, nein.« Mikos Stimme klang eine wenig schuldbewusst und sie fügte rasch hinzu: »Bis jetzt nicht. Aber die Untersuchungen laufen ja noch. Solche Tests werden sicher noch durchgeführt. Warten Sie – wir haben einen Test mit einem toten Kaninchen gemacht, aber der verlief negativ. Die Glibberbags haben nicht im Geringsten darauf reagiert.«
»Welche lebendigen Tiere haben Sie denn zur Verfügung?«
»Wie Sie schon sagten, Kaninchen, Ratten und Mäuse. Auch ein paar Schäferhunde und Rhesus-Äffchen, aber Tierversuche müssen natürlich genehmigt werden.«
»Schon klar, die entsprechenden Vollmachten hat man mir erteilt. Ich denke, wir sollten zunächst mit den Kaninchen anfangen. Aber gleich morgen.« Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Wesen im Terrarium zu und ging vor dem Glasbehälter in die Knie. Seit sich das Glibberbag unter Wasser befand, hatte es eine längliche schlanke Form angenommen und glich nun am ehesten einer Seegurke oder einer durchsichtigen Meeresschnecke. Mit weichen, windenden Bewegungen glitt es zwischen den Felsbrocken umher, mit denen der Boden des Terrariums eingerichtet war. Hin und wieder formte es ein tentakelförmiges Vorderende, mit dem es in Ritzen und Höhlungen tastete. Jetzt konnte man auch sehr deutlich das Innere des Glibberbags erkennen. Das »Kopfende«, jenes Ende in dessen Richtung es sich bewegte, war deutlich dunkler gefärbt, während der sackartige „Hinterleib“ eine eher grießige Innenstruktur aufwies - etwa wie zu lange gekochter Sago.
»Sie sagten, sie fressen nicht«, begann Sonja nach einer Weile wieder. »Und Sie sagten, dass sie die einzige Lebensform auf Neu-Trinidad seien. Wie kann das sein? Ich meine, das ist doch kein stabiles ökologisches System. Irgendeinen Kreislauf muss es doch geben, der sie am Leben erhält.«
»Die Glibberbags benötigen keinen solchen Kreislauf. Sie sind Einzeller – die größten übrigens im bekannten Universum. Nichts anderes als riesige Amöben – und ihr Stoffwechsel ist primitiv wie der von Schwefelbakterien. Sie nehmen über ihre Zellmembran Minerale aus dem Wasser auf, dazu Kohlendioxid, Schwefelwasserstoff, Methan und noch ein paar Spurengase. Daraus bezieht ihr Stoffwechsel seine Energie und daraus bauen sie ihre Körpersubstanz auf. Sie scheiden Wasser und Sauerstoff aus, und wenn sie sterben, zerfallen sie wieder zu Kohlendioxid und Methan … und Mineralien. Der Kreislauf ist also geschlossen. Wir haben überzeugende Hinweise darauf, dass die Glibberbags sich seit über zwei Milliarden Jahren nicht weiterentwickelt oder auch nur verändert haben.«
»Sozusagen eine Sackgasse der Evolution, wie?«, sagte Sonja.
»Eine absolute«, bestätigte Miko. »Normalerweise beginnt höheres Leben ja damit, dass sich aus einzelnen Zellen Verbände bilden, die sich organisieren und spezielle Aufgaben übernehmen. Hier auf Neu-Trinidad ist das nicht passiert, obwohl es etwa so alt wie die Erde ist. Wir sind uns ziemlich sicher, dass einige Körpersekrete der Glibberbags eine solche Verbindung verhindern oder wieder auflösen können – eben das, was mit de Marigny geschehen ist. Und sie scheiden sie ständig in geringen Mengen ab – das Meerwasser auf Neu-Trinidad enthält einen stabilen Anteil dieser Substanzen.«
»Mit anderen Worten: Wenn die Glibberbags nicht durch einen dummen Zufall aussterben, wird es auf Neu-Trindidad niemals vielzellige Organismen geben«, zog Sonja das Resümee aus Mikos Erklärung.
»Richtig. Wenn sie aussterben natürlich auch nicht. Wie gesagt, es gibt hier nichts, das diese Lücke ausfüllen könnte.«
»Eigentlich schade. Die Bedingungen auf Neu-Trindidad sind doch im Grunde ideal, um höheres, vielleicht sogar intelligentes Leben hervor zu bringen – und dann bleibt es schon nach dem ersten Schritt stecken.«
Miko wiegte Widerspruch andeutend den Kopf.
»Naja, ich würde nicht kategorisch behaupten, dass sie nicht ein gewisses Maß an Intelligenz besitzen. Ihr Verhalten zeigt durchaus Merkmale, die denen höherer Tiere ähneln. Ich kann Ihnen dazu wenig sagen, ich bin Biochemikerin. Aber Benny … ich meine, Dr. Benito Ramirez, hat sich eingehend mit ihrem Verhalten beschäftigt und eine Menge spannender Sachen herausgefunden«, sie richtete den Blick nach oben. »Sein Labor befindet sich genau über meinem, eine Etage höher.«
»Dann werde ich den als nächsten besuchen. Aber erst morgen«, Sonja schaute zu den Außenfenstern. Draußen schien inzwischen wieder die Sonne. Weiße Schäfchenwolken trieben eine kaum noch wahrnehmbare Gewitterfront vor sich her, die sich langsam hinter dem Horizont verkroch. »Ich werde jetzt erstmal meine Sachen aus dem Gleiter holen, ausgiebig duschen und alles ins Reine schreiben, was Sie mir erzählt haben.«
»Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.«
To be continued...

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