Tivoli 1: Hanswurst und Gottfried Michaelsen

Hanswurst

Der Laden sah von außen gottverboten runtergekommen aus. Der dürftige Steg, der das Hausboot mit dem Ufer verband, würde nicht den kleinsten Sturm überstehen, geschweige denn ein ausgewachsenes Hochwasser.
Die Fenster waren blind und steckten in rissigem Holz, das aufgequollen und übersäht von Schimmel war. Um das eigentliche Gebäude lag ein Weg, der auf zwei Seiten von einem rissigen Geländer begrenzt wurde. Die dritte Seite führte zum Bootsanlegesteg, an dem eine Handvoll heruntergekommene Schiffe ankerten. Die vierte Seite bot zur Abwechslung eine Attraktion. Sie bildete eine Planke, die direkt ins Wasser führte.
Eine Planke, in der man normalerweise auf hoher See die Verurteilten ihrem Schicksal überließ. Doch hier auf diesem mickrigen Fluss?
Hanswurst wusste sich darauf keinen Reim zu machen.
War er den weiten Weg aus Vettelschoss bis hierhin gegangen, um in einer solch heruntergekommenen Kaschemme zu landen?
Der Tivoli!
Sagenumwobener Ort, Hort der Wahnpiraten, der gefürchtetsten Vereinigung seit den Likedealer. Hier sollten all die Freibeuter sich versammeln um ihren Kampf gegen Recht und Ordnung aufzunehmen? Das Zentrum des Anarchismus, eine Kreuzung aus Port Royal und El Dorado? Der dunkelste Ort in diesem Teil des Universums?
Schaudernd wollte er sich abwenden, doch sein Blick kehrte unwillkürlich zu dem eigentlichen Gebäude zurück.
Jämmerliche zehn mal zwölf Meter und das alles auf einer Etage.
Wo war der stolze Tivoli von dem Struwwelpeter und Schmalhans gesprochen hatten? Wo die Legionen an bösen und mächtigen dunklen Gestalten, die ihn mit auf die große Reise nahmen?
Er sah nur ein heruntergekommenes und wenig stattliches Hausboot, auf dem allerhöchstens die Dreckkrümel im Stiefelabsatzes Gottfried Michaelsen platz hatten, aber niemals die berüchtigten Wahnpiraten.
Er verfluchte Struwwelpeter und Schmalhans mit ihren klugen Sprüchen und ihrer überbordenden Fantasie.
Aber es half alles nichts. Jetzt war er einmal hier und so schnell ließ er sich nicht ins Bockshorn jagen. Vielleicht bot der Laden ja eine ordentliche Mahlzeit und ein kühles Bier.
So betrat er recht desillusioniert die wacklige Konstruktion und machte sich auf den Weg in den Tivoli.
Er, ehemals ehrbarer Bürger von Vettelschoss, würde den Laden halt aufmischen. Voller Schwung schritt er durch die Flügeltür…und prallte unwillkürlich zurück.
War es vor einer Sekunde noch still, schallte ihm jetzt kreischende Gitarren entgegen. Er sah unzählige düstere Gestalten. Gewaltbereite Riesen und wollüstige Weiber.
Vielleicht war er doch richtig. Er betrat die Kaschemme…


Gottfried Michaelsen

„Mary-Jane!“, schrie ich durch den Tumult. „Mach mir noch eins!“
Ich brauchte mir keine Sorgen machen. Meine trockene Kehle würde bald Linderung bekommen. Mary-Jane verstand ihren Job. Sie war schnell, unauffällig und verdammt zuverlässig. Sie war die gute Seele der Haifischbar und einer ihrer Trümpfe.
Wenn ich mir das Gesocks hier anschaute brauchte es schon besondere Qualitäten, damit dieses Pulverfass nicht explodierte.
„… und ´ne Bottle voll Rum!“, brüllte ich mit heißer kraftvoller Stimme.
Das Publikum tobte, mein Rücken wurde von den zahllosen Beifallsstürmen malträtiert -Piraten hatten aber auch eine handfeste Art ihre Begeisterung auszudrücken – und jeder zupfte an mir und meinen Klamotten, als wäre es das erste und das letzte Mal, das ich in dieser Kaschemme mein Bestes gab.
Unwillig schüttelte ich die stinkenden Robben ab, krallte mir aber die zwei willigsten Weiber und enterte die Theke, wo mein kühles Blondes schon wartete.
„Mach den beiden auch was“, presste ich zwischen meinen Zähne hervor, bevor sich meine Zunge einer angenehmeren Beschäftigung zuwandte. Die Blonde wehrte sich, wenig begeistert von meinen amourösen Bemühungen. Ich liebte es, mich dabei zu kabbeln, aber ich wollte den schwarzhaarigen Traum nicht zu lange warten lassen. Schließlich sollte man den Fisch nicht zu lange zappeln lassen, er könnte ja noch vom Haken gleiten.
„Schade, La Femme! Vielleicht beim nächsten Mal!“, nahm ich es sportlich und widmete mich meiner linken Begleiterin zu.
„Schätzchen, wie sieht es aus. Lust auf ein wenig Matratzenball?“
Braune, glühende Augen. Eine Oberweite, die jede Bluse sprengte und zudem tief blicken ließ. Ich war entflammt. Geil bis in die Haarspitzen und stand kurz davor, von allein loszugehen wie ein entzündeter Hinterlader.
„Hallo, Großer! Willst du dich nicht erst einmal vorstellen bevor du mit dem Bug die Wellen zerteilst?“
Aha, eine Poetin! Ich hatte nichts gegen ein paar warme und schwülstige Worte. Im Gegenteil. Das stachelte meine Leidenschaft nur umso mehr an.
„Nun, meine glutäugiger Vulkan. Ich hoffe, dir die Zeit bis zum Ausbruch ein wenig versüßen zu können. Ich, Gottfried Michaelsen, bin weitgereister und vielgerühmter Sänger von The Sails of Charon. Und wenn ich eines bezeugen kann. Weder am Rand der Welt, wo der reißende Mahlstrom der Zeit die Dinge ein wenig ungewisser sein lässt, noch in den Tiefen der Höhlen von Charon, in denen mein einziger und wahrer Meister ein wahres Wunderwerk an Frauenbilder versammelt hat, ist mir niemals – und ich meine damit wirklich niemals – eine solch explosive, lebendige Mischung an Rasse, Klasse und Weiblichkeit untergekommen, wie sie meine Adleraugen genau in dem Moment entdecken, wenn du dich ein wenig unbeobachtet fühlst und dir in der Schäfchenherde namens Haifischbar ein unschuldiges Lamm suchst.
Glaub mir, ich bin nicht nur auf allen neun Weltmeeren gereist, neben den bekannten ist das der tiefgelegene und schwer auffindbare Ozean der Quarks – auch Ozean der Farben genannt -, und das im Mahlstrom enteilte Raumzeitmeer der Deflation.
Es hat mich in die weit entferntesten Ecken des bekannten Universums verschlagen. Ob ich am Ende des Raums angeklopft habe oder dem Ereignishorizont eine lange Nase gedreht habe, mir ist schon so vieles unter die Augen getreten, dass mich gewöhnlich Langeweile plagt und ich nur so aus einem Impuls heraus meiner inneren Eingebung nachgebe, egal was andere darüber denken.
Schau“, flüsterte ich verschwörerisch. „Jetzt geht die Tür auf und Hanswurst betritt die Haifischbar. Ein grauer, dürrer und langer Kerl, der zur Begrüßung ein 32er Kaliber entgegen gestreckt bekommt.“
Sie sieht mich mit diesem amüsierten, leicht überheblichen Blick an, der mich einerseits in Rage, andererseits rattenscharf macht.
Ich ziehe meinen Hinterlader, spanne beide Hähne und beobachte amüsiert, wie sich das gewöhnliche Pack zur Seite rettet. Langsam zähle ich bis zehn, erhöhe den Druck auf den Abzug in einem Maße, das die kleinste Erschütterung den Schuss löst. Ich huste, die Tür fliegt auf und der gerade im Eintreten befindliche Hanswurst wird nach hin gerissen, ein unschönes Loch tut sich in seiner Brust auf und treibt ihn samt Blutregen wieder auf den Steg zurück.
Ich schaue nach Johnny, der keinen Muskel rührt. Das Schicksal hat zugeschlagen und Johnny wäre der letzte, der sich gegen die Vorhersehung stellt. So etwas würde nur ein vollkommener Narr machen.
Mein Blick kehrt zu meiner glutäugigen Begleitung zurück. Ihre Augen strahlen, auch wenn sie versucht dies zu verbergen.
„Aber egal wo ich gereist bin und was ich erlebt habe. Noch nie bin ich so einem Prachtweib wie dir begegnet.“
Ja, sie ist die richtige für heute Nacht. Eine Frau, wie gemacht für den singenden Piraten und ein würdiger Abschluss eines hoffentlich denkwürdigen Abends.

Fortsetzung folgt...

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