Little Drummer Roy (Leseprobe Zwielicht 9)


Leseprobe aus Zwielicht 9

Dominik Grittner - Little Drummer Roy

Die meisten Menschen zählten Schafe, wenn sie nicht einschlafen konnten. Eva dagegen zählte Schweinchen. Schweinchen, die versuchten, über den spitzen Zaun zu springen, es aber nicht schafften, weil Schweine nun mal schlecht im Springen sind. Und letztendlich spießten sie sich auf. Das war Evas Humor.
Eva war bei 122 toten Schweinen angelangt, da legte sich etwas Schlaf über sie. Es funktionierte. Vielleicht würde sie morgen einmal nicht todmüde in der Schule aufkreuzen und von ihrem Biologielehrer Herr Zahn „Wandelnde Leiche“ genannt werden. Die Geräusche in den Plattenbauten um sie herum wurden dumpf, ihr Atem tief.
Ein Beckenschlag riss sie aus der Müdigkeit. Eva schlug die Augen auf. Den Bruchteil einer Sekunde dachte sie, sich dieses Geräusch nur eingebildet zu haben, jedoch folgte dem Beckenzischen sofort ein Schlag auf eine Trommel, noch einer, noch einer, ein hohes Trommeln, ein tiefes Trommeln – ein Takt. Jemand spielte Schlagzeug.
Eva sprang aus dem Bett, wobei ihre noch vom Duschen nassen Haare über ihre Schultern fielen. Sie presste sich gegen ihr Zimmerfenster und blickte auf den Innenhof des Plattenbauviertels, über den zu dieser Uhrzeit sonst nur die letzten Betrunkenen nach Hause wankten und die ein oder andere Katze streifte. Doch nun saß dort jemand unter der einzigen Laterne im ganzen Innenhof. Ein Junge mit Kapuze, der auf einem sporadisch aufgebauten Schlagzeug – bestehend aus Basedrum, Snare, zwei Toms und einem Becken - einhämmerte und die Drumsticks so schnell durch die Luft wirbelte, dass das menschliche Auge ihnen kaum folgen konnte.
Der Junge spielte einen Takt, der Eva vertraut war, den sie aber nicht zuordnen konnte. Sie nickte den Kopf und summte den Takt mit. Woher kannte sie die Musik?
Ihr Blick streifte über die Sechzehnstöcker der Plattenbausiedlung. Nach und nach schalteten sich die Lichter der Wohnungen an, Bewohner traten raus auf ihre Balkone, blieben wie angewurzelt stehen und blickten in den Innenhof. Einige brüllten etwas zu dem Schlagzeuger herunter, was allerdings im Lärm des Schlagzeugspiels unterging. Es würde nicht lange dauern, wusste Eva, dann würden die Ersten die Polizei rufen.
Eva musste darüber lächeln. Über dieses vermeintlich kleine Chaos, das der Schlagzeuger in diesem geordneten Plattenbau-Leben anrichtete. Noch faszinierender fand sie, dass sich der Junge darum kaum scherte. Der Schlagzeuger schlug hoch konzentriert auf jede seiner Trommeln, die Kapuze tief im Gesicht hängend, nur manchmal hob er den Kopf, als würde er sein Spiel genießen.
Umso länger Eva dem Jungen zuschaute, desto stärker wurde ihr Kribbeln im Bauch. Sie schloss kurz die Augen, stellte sich vor, neben ihm am Schlagzeug zu stehen, jeden seiner Trommelschläge aus nächster Nähe zu beobachten. Vielleicht würde sie ihm auch einen Schluck Wasser reichen, wenn er durstig wurde und das Spiel nicht unterbrechen konnte, vielleicht würde sie ihm auch die Holzbox, auf der er saß, zurechtrücken, wenn er wegen seines intensiven Spiels ein Stück zu weit vorrückte.
Eva musste runter in den Innenhof und den Schlagzeuger sehen.
Hastig tastete sie über ihren Schreibtisch, der zugemüllt mit Entwürfen für schlechte Songtexte war, riss die Blatt Papiere herunter, bis sie endlich den Hausschlüssel zu greifen bekam – die paranoiden Rentner aus dem Erdgeschoss schlossen nachts stets die Eingangstür ab. „Hier wird ständig eingebrochen“, behaupteten sie, aber über einen Einbruch in ihrer Plattenbausiedlung hat Eva noch nie etwas gelesen oder gehört.
Sie zog sich halbherzig ihren schwarzen Herbstmantel über und stürmte das Treppenhaus herunter, schloss die Tür auf und trat hinaus auf den Innenhof, hinaus in die Kälte. Sie konnte ihren Atem sehen.
In der Zwischenzeit wurden noch viel mehr Wohnungslichter eingeschaltet, die Nachbarn brüllten, der Schlagzeuger solle aufhören, drohten, sie würden die Polizei rufen. Aber niemand traute sich herunter in den Innenhof.
Ganz langsam ging Eva auf den Schlagzeuger zu. Auf dem Asphaltboden sammelten sich Geröll und Glassplitter zerschellter Bierflaschen. Eva trug keine Schuhe, nur Socken und auch nicht besonders dicke.
Eva blieb stehen. Hinter dem Schlagzeugerjungen näherte sich jemand. Die Gestalt bewegte sich hinter dem Laternenpfahl, dadurch war sein Gesicht kaum zu erkennen. Was Eva jedoch Angst machte, war die Ruhe und Selbstsicherheit, mit der sie dem Jungen näher kam. Und das Feuerzeug, das die Gestalt in der Hand hielt und immer wieder entzündete. In immer kürzeren Zeitabständen, umso näher die Gestalt dem Schlagzeuger kam.
Dadurch erkannte Eva ihn. Es war Ratten-Ratsche, der sich nachts allein durch das Plattenviertel schlich, Menschen in dummen Small Talks verwickelte und währenddessen mit seinem Feuerzeug spielte. Seit Eva hier wohnte, sah sie ihn hin und wieder. Seine Zähne standen aus dem Mund hervor, manchmal troff etwas Speichel über die Schneidezähne, seine Augen waren groß, dunkel und bedrohlich – eben wie die einer Ratte. Aus seinem Gürtel ragte stets ein Messergriff. Niemand wusste, ob er einem gefährlichen Buschmesser gehörte oder ob es sich dabei lediglich um eine Attrappe handelte – herausfinden wollte es jedenfalls niemand.
Ratten-Ratsche beugte sein Gesicht über die Schulter des Schlagzeugers. Der bekam die Bedrohung nicht mit, weil er zu sehr auf sein Spiel konzentriert war. Eva sah vor dem inneren Auge, wie Ratsche sein Messer ziehen und dem Jungen die Kehle durchscheiden würde.
Sie rannte los.
Eva trat über die Steine und hinein ins Glas, spürte den Schmerz kaum. Zu viel Adrenalin. Eine Glasscherbe drang tief in ihre Fußsohle, es fühlte sich an wie ein kurzes Brennen, nichts Erwähnenswertes.
„Stopp!“, war alles, was sie sagen konnte. „Stopp!“
Der Schlagzeuger stoppte sein Spiel nicht. Nur Ratten-Ratsche schaute auf, zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. Und lächelte sie an.
Eva erwiderte den Blick. Du darfst ihm nicht zeigen, dass du Angst hast.
Doch Ratsche verzog nur sein Rattengesicht, als liefe alles für ihn nach Plan, wich einen Schritt zurück und verschwand in der Dunkelheit.
Eva erreichte den Schlagzeuger, der völlig unbeeindruckt von dem, was um ihn herum geschehen war, den letzten Takt seines Songs spielte, die Drumsticks beiseitelegte und nach Luft schnappte.
Er zog nun die Kapuze herunter und zeigte sein junges, glatt rasiertes Gesicht und seinen glatt rasierten Schädel. Der Schlagzeuger mochte nicht viel älter sein als Eva, vielleicht sechzehn, vielleicht siebzehn. Seine Augen strahlten vor hellem blau. Sie wirkten so klar, so voll im Moment. Er trug bloß ein Unterhemd, worüber sein dicker Parker ruhte wie ein erlegtes Tier.
Er würdigte Eva keines Blickes, packte seine Tom Toms, Base Drum, Becken und Snare zusammen, legte sie in Windeseile in den Einkaufswagen, der neben ihm stand, und schob ihn davon in die Dunkelheit, aus der er gekommen war.
„Na endlich ist hier Ruhe“, rief eine Frau aus dem Fenster.
Zögerlich streifte sich Eva durch ihr nasses Haar, schaute auf ihre mit Blut überströmten Füße und fragte sich für einen langen Moment, ob sie das alles hier bloß geträumt hatte.
 ...Fortsetzung in Zwielicht 9 lesen.

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