Karin Reddemann – Hässlich (Alles eine Frage des Stils)


Alles eine Frage des Stils ist im Frühjahr erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme.

Karin Reddemanns Geschichten sind niemals von der Stange. Sie hat einen eigenen Stil und überraschen den Leser immer wieder, aber lesen Sie selbst, die vollständige Geschichte finde sich in Alles eine Frage des Stils:

Karin Reddemann Hässlich

 

Eva blinzelte. Ihr Blick fiel auf ein Bild, das eine bleiche Maria mit traurigen bernsteinfarbenen Augen und einen kleinen lockigen Jungen zeigte, der dem Maler etwas zu wohlgenährt geraten war. Er sah fett aus. Sein Kopf war viel zu groß, nicht viel kleiner als der seiner Mutter. Für einen flüchtigen Moment wähnte Eva sich im Schlafzimmer ihrer Großmutter, über deren Bett exakt dieses Bild gehangen hatte. Aber das konnte definitiv nicht sein. Ihre Großmutter war schon seit vielen Jahren tot, und das Bild, das niemand hatte behalten wollen, war mit dem alten Bett auf dem Sperrmüll gelandet.

Eva fühlte sich benommen, ihr Nacken schmerzte, ihre Knie, ihr Brustkorb. Einfach alles. Sie saß auf einem Stuhl in einem Raum, den sie nicht kannte, mit einem Bild an der Wand, das sie als Kind schön gefunden hatte. Jetzt wirkte es finster. Es machte ihr Angst. Einfach, weil es dort hing und sie das Gefühl hatte, dass das völlig falsch war. Alles in dem Raum war falsch. Auch sein muffiger, säuerlicher Geruch. Er roch nach verfaulter Vergangenheit.

Sie gehörte nicht hierher. Ein Missverständnis, dachte sie, das ist ein schreckliches Missverständnis.

Dann sah sie das Schild, das mit Klebestreifen über dem Türrahmen befestigt. Rote Druckschrift auf hellgrauer Pappe, dicke, sauber gemalte Buchstaben: NICHT SCHREIEN! SITZENBLEIBEN! WARTEN!

Was für ein Schwachsinn. Für einen kurzen Moment glaubte Eva wirklich, dass das nur ein geschmackloser Witz sein könnte. Wäre es so, sollte sie jetzt umgehend etwas tun. Was? Aufspringen, laut nach wem und was auch immer brüllen, gegen die Tür hämmern. Das wäre in ihrer Situation grundsätzlich logisch. Sitzenbleiben!

Eva sah sich nervös um. Der Raum war altmodisch möbliert, mit klassischer Wohnzimmergarnitur, - ein Sofa, zwei Sessel, abgenutzter, sandfarbener Cordbezug -, und einem schweren Eichentisch in der Mitte. Die grün-weiß gestreifte Tapete klebte mit Sicherheit schon seit zwanzig Jahren. Vor dem Fenster befand sich eine herunter gezogene gelbe Jalousie, auf der Fensterbank standen vertrocknete Topfpflanzen. Das Bild ihrer Großmutter, - Unsinn, natürlich nicht ihr Bild -, hing über einer schwarzen, hölzernen Anrichte in einem kitschig verschnörkelten Goldrahmen.

Sie erinnerte sich an ihre Großmutter als eine sehr resolute Frau, die nie lächelte. Eva sah sich selbst als zwölf- oder dreizehnjähriges Mädchen hinter dem Vorhang stehen, der das Wohnzimmer von der Essecke trennte. Sie hörte, wie ihre Großmutter zu ihrer Mutter sagte: „Eva ist ja nun nicht die Hübscheste. Und zu dick ist sie auch. Aber ein gutes Kind.“

Gutes Kind. So gut. So fett. So hässlich.

Eva sah hastig wieder zu dem Schild hinauf. NICHT SCHREIEN! SITZENBLEIBEN! WARTEN! „Scheiße“, flüsterte sie, „so eine verdammte Scheiße.“

Sie hörte sich atmen, es klang wie ein anhaltendes, leises Stöhnen. Sie erinnerte sich an Regen. Das Laub auf den Wegen, die Pfützen auf dem durchweichten Boden. Eva blickte an sich hinunter. Ihre blaue Cordhose war völlig verdreckt. Sie war mit Pelle am frühen Abend im Stadtpark gewesen, das wusste sie genau. Nichts Besonderes, sie lief oft mit ihm im Park, meist um die gleiche Zeit. Immer der gleiche Weg. An den Tennisplätzen mit dem Clubhaus vorbei, dann durch das kleine Waldstück vor dem ehemaligen Rotwildgehege, hinter dem der kleine Zoo lag. Sie hatte den Hund von der Leine gelassen, eine Zigarette geraucht, sich noch geärgert, nicht die dicke Jacke angezogen zu haben, weil es lausig kalt gewesen war. Vorhin. Vor ein paar Stunden? Gestern? Wann? Es konnte nicht allzu lange her sein. Oder doch?

Bin ich gestürzt, bewusstlos gewesen? Ich hätte doch merken müsssen, wenn mich jemand hierher verschleppt hätte?

Es schien ihr, als hätte sie sie auf diesem Stuhl geschlafen, so steif war ihr Körper. Sie fröstelte, obwohl es unangenehm heiß und stickig in dem Zimmer war, von dem sie nicht wusste, wie sie hineingekommen war. Und warum überhaupt. Sie wusste auch nicht, ob sie jetzt weinen wollte. Oder, - nein, bloß nicht, das darfst du nicht! - . schreien. Sie wusste nur, dass hier etwas Alptraumhaftes ablief, von dem sie keine Vorstellung hatte. Etwas, das kontrolliert wurde.

Irgendwo musste hier jemand sein. Wer? Niemand würde ein derartiges Spiel mit ihr spielen, der ihr Freund wäre. Spiel? Das ist kein Spiel. Es ist...

Es kam zurück. Das, was geschehen war, suchte sich seinen Weg: Sie strauchelte. Fiel. Ein Schatten über ihr. Ein Angstschrei. Ihr Schrei.

Ich bin gestoßen worden. Jemand hat mich von hinten zu Boden geworfen und mir einen Lappen ins Gesicht gedrückt. Er hat widerlich gestunken. Ich hab' keine Luft gekriegt. Pelle hat gebellt. Sehr laut gebellt. Und dann...

Ihr Kopf dröhnte. Sie hatte das abartige Gefühl, alles in ihr würde sich heillos verkrampfen. Für einen kurzen Moment kniff sie fest die Augen zusammen. Fest. Ganz fest. Nur nicht vorstellen, dass... Sie dachte an Pelle. Und, ohne es sich selbst erklären zu können, ganz automatisch auch an die zwei Frauen, deren Leichen man vor wenigen Tagen auf der Halde gefunden hatte. Mir wird schlecht. Mir wird ganz schlecht. Ich...

„Du bist mir einfach weggelaufen, Sophie. Warum? Wolltest du sterben, Sophie?“

Eva zuckte zusammen. Der Mann, der dort im Türrahmen stand, war ihr gänzlich fremd. Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Sophie? Sie starrte ihn für den Bruchteil einer Sekunde irritiert an. Er war groß und hager. Brille, dunkle Strickjacke, braunes, strähniges Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. Sein Gesicht war schmal. Spitze Nase. Flaches Kinn.

Eva schluckte, ihr Mund war ganz trocken, sie hatte schrecklichen Durst. Unwichtig jetzt. Sie musste antworten.

Weggelaufen. Sterben! Wolltest du sterben, Sophie?

„Nein, ich...bitte, ich bin nicht...“

„Weggelaufen bist du.“ Er schnitt ihr barsch das Wort ab. „Vielleicht werde ich sehr, sehr wütend, wenn du das noch mal machst. Ich bin ein kranker Mann.“

Eva starrte ihn fassungslos an. Dann sah sie den Revolver. Er hielt ihn in seiner rechten Hand und zielte damit auf sie.

„Bumm. Und tot. So geht das nämlich. Ich bin kein Idiot. Ich kann dich totmachen.“

Eva schüttelte entsetzt den Kopf. „Bitte nicht. Sie...nicht schießen, hören Sie, nicht schießen. Sie verwechseln mich. Tun Sie mir bitte nichts.“ Ihre Stimme kam ihr fremd vor. Ungesund fremd. Wie die einer Erstickenden.

 „Du machst mich wirklich schrecklich böse, Sophie.“

Er kam näher.

„Ich bin ein kranker Mann. Wie oft soll ich dir das noch sagen?“

Noch näher.

„Wie oft, Sophie?“


 Sollte Ihnen die Geschichte gefallen haben, würden wir uns über eine Stimme beim Vincent Preis freuen. Zur Wahl des Horrorpreises geht es hier: Vincent Preis 2020

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