Julia Annina Jorges - Puppenspiele (Zwielicht 14)
Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme.In Julia Annina Jorges’ „Puppenspiele“ (Zwielicht 14) findet sich ein Unfallopfer überraschend in einer Schaufensterpuppe wieder. Nach der Wiedergeburt ist sie mit ihrer neuen Familie so gar nicht zufrieden, die vollständige Story findet sich in Zwielicht 14:
Julia Annina Jorges - Puppenspiele
Ich hasse Puppen, besonders solche, die mehr oder weniger lebensecht
aussehen. Außerdem mag ich keine Kleider und trage definitiv lieber Hosen als
Röcke. Schon immer. Diese Aversion ist kein Zufall, sie hat ihre Gründe. Und erklärt, warum ich schon
sehr bald etwas tun werde, was anderen Menschen unvorstellbar erscheinen muss.
***
Um mich herum herrschte Dunkelheit, in meinem Kopf ebenso. Viel mehr
als die grobe Vorstellung, ein menschliches Wesen zu sein, besaß ich nicht. Ich
war unfähig, auch nur den
kleinen Finger zu krümmen, mir fehlte jedes Gefühl für meinen Körper. Immerhin
konnte ich sehen, wenn auch verschwommen. Anhand des Blickwinkels stellte ich
fest, dass ich auf der Seite lag, allem Anschein nach in einem spärlich
beleuchteten Innenraum. In der Nähe machte ich mehrere Fußpaare aus, unbeschuht
und weißlich schimmernd; höher und weiter reichte meine Sicht nicht. Ich
überlegte, was mir zugestoßen sein könnte, weswegen ich mich offenbar in einer
Art Wachkoma befand. Warum aber lag ich auf dem Fußboden statt in einem
Krankenhausbett? Wieso halfen mir diese barfüßigen Leute nicht? Und warum
geriet ich aufgrund all dessen nicht in Panik, wie es wohl angebracht gewesen
wäre? Über diese Fragen dämmerte ich weg.
Mein Blick zielte leicht schräg nach unten. Verwundert stellte ich
fest, dass mein rechter, wie zum Schritt vorgesetzter Fuß in einem schmalen
Damenschuh steckte. Gleich darauf erkannte ich in dem lang gestreckten hellen
Ding auf Bauchhöhe einen Unterarm und eine zierliche Hand. Ich konnte nicht
glauben, dass diese Körperteile zu mir gehörten, doch das Spiegelbild in der
Scheibe vor mir belehrte mich eines Besseren. Darüber hinaus zeigte es mir,
dass ich Gesellschaft hatte, wenngleich eine wenig herzerwärmende, in Form einer
blonden Schaufensterpuppe. Abgesehen von meinem Haar, das ich – eine
Überraschung mehr – seit Neuestem lang und kastanienfarben trug, sah sie mir so
ähnlich, dass sie mein Zwilling hätte sein können. Gemeinsam blickten wir auf
die in Regen und Dämmerung vorbeieilenden Menschen hinter der Fensterfront und
lauschten den gedämpft zu uns hereinklingenden Verkehrsgeräuschen – neben dem
Sehsinn war mir die Fähigkeit zu hören erhalten geblieben. Während es auf der
Straße nach und nach ruhiger wurde, mühte ich mich ab zu verstehen, was zur
Hölle hier vorging.
Die Innenbeleuchtung erlosch und damit der Spiegeleffekt. Kurz nach
zehn, zeigte die Uhr an der Bushaltestelle vor dem Schaufenster. Gegenüber,
gerade noch in meinem peripheren Gesichtsfeld, entdeckte ich einen Pizza-Hut.
Dort hatte ich schon mal gegessen – es hatte mich also in eins der Werbefenster
der C&A-Filiale in der Münzstraße verschlagen … Konnte das Ganze ein Traum
sein, während das, was ich zuvor geträumt zu haben glaubte, der Realität entsprach?
Keine sehr erfreuliche Alternative. Im Traum nämlich waren die Bremslichter
eines vorausfahrenden Lastwagens meiner Windschutzscheibe immer näher gekommen,
während ich wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf die Hecktür des Laderaums
starrte, deren eine Seite plötzlich aufschwang. Etwas war zum Vorschein
gekommen. Aber was? Ich erinnerte mich lediglich an einen gewaltigen Knall.
Mit jedem Aufwachen fiel es schwerer, zu leugnen, dass ich im Körper
einer weiblichen Schaufensterpuppe steckte – nicht, dass das Geschlecht in dem
Fall eine Rolle spielte. Demnach war ich gestorben und durchlebte nun … mein
ganz persönliches Fegefeuer? Vermutlich konnte ich mich noch glücklich
schätzen, als Modepuppe wieder„geboren“ zu sein und nicht als Crashtest-Dummy.
Aber was war das für ein
Jenseits, in dem man in einem Schaufenster herumstand, um für die neuesten
Produkte der Bekleidungsindustrie zu werben? Es gab keine Verbindung zwischen
mir und der Modebranche, Klamottentrends hatten mich nie interessiert.
Abgesehen von diesem Desinteresse hatte ich nichts verbrochen, was den
Aufenthalt in einem Werbefenster als höllische Strafe rechtfertigte. Giselle –
so hatte ich meine stumme Gefährtin genannt – schien mich mitfühlend
anzulächeln, wann immer es draußen dunkel und ihr Abbild für mich sichtbar
wurde. Wie sie da stand, ihre Hände an die Wespentaille gestemmt, in eleganter
und gleichzeitig provokanter Haltung, erweckte sie den Anschein, als könnte sie
sich mir jeden Moment zuwenden und ein Gespräch beginnen. Ob Giselle ein Bewusstsein
besaß? Lebten noch mehr Menschen in Schaufensterpuppen fort? Gesetzt den Fall,
es wäre so – bestand eine Möglichkeit, untereinander zu kommunizieren? Wenn ja,
wäre es am ehesten an den Augen zu erkennen; ein winziges Funkeln, das in
Giselles blauen Augen hätte aufleuchten müssen zum Zeichen, dass sie mich und
ihre Umwelt wahrnahm. Meine Position erlaubte mir keinen direkten Blick in ihr
Gesicht, aber ich hatte sie gesehen, im Spiegel der Scheibe, hatte Giselles
tote Puppenaugen gesehen. Sie war nicht wie ich.
Ich konnte schlafen, sogar träumen, was die Monotonie meines Zustands
etwas linderte. Mein Schlaf-Wach-Rhythmus folgte keinem erkennbaren Muster.
Mitunter war ich mehrere Tage
lang weg – anhand der Sonntage, wenn die Straße sich leerer als sonst zeigte, ließ sich das einigermaßen
rekonstruieren –, dann wieder nur wenige Stunden. Die Zeiten, in denen die
Schauwerbegestalter die kleine Bühne betraten, die ich mir mit Giselle teilte,
bedeuteten eine willkommene Abwechslung. Ihre Gespräche gaben mir einen
winzigen Einblick in die Welt da draußen. Begierig sog ich Neuigkeiten aus
Politik und Gesellschaft auf. Leider drehten sich die meisten Themen lediglich
um den jeweils aktuellen Auftrag und um Mode. Lange Hose, Pullover – aha, die
Herbstkollektion. Gedeckte, kräftige Töne, kein Pastell, das – wer? – so
gemocht hatte. Wie ein Blitz traf mich die Erinnerung. Nina! Rabenschwarzes
lockiges Haar, einen Kopf kleiner als mein früheres Ich und mit ausgesprochen
weiblicher Figur, das genaue Gegenteil der spindeldürren Giselle. Nina. Wie es
ihr wohl ging? Am Unfalltag hatte sie nicht neben mir im Auto gesessen. Ninas
Gesichtszüge wirbelten durcheinander. Hin und her drehten mich die Mitarbeiter
des Kaufhauses, auf die ich mit einem Mal eine unbändige Wut empfand, weil sie
mich daran hinderten, mich auf das zu konzentrieren, was mein wiedererwecktes
Gedächtnis hervorbrachte. Lasst mich in
Ruhe!, wollte ich schreien. Ich fühlte mich ausgeliefert und hilflos. Mein
Zorn fand kein Ventil, keine körperliche Reaktion milderte ihn. Er brachte
meinen Kopf schier zum Platzen, ich glaubte, sterben zu müssen. Aber ich starb
nicht. Ich kam zu mir wie stets, posierend neben Giselle. Seltsam froh darüber,
weiterexistieren zu dürfen, erzählte ich ihr in Gedanken von Nina. Ninas Figur,
Ninas Lachen, der Sex mit Nina, selbst ihre Macken wie die Neigung, jeden
zweiten meiner Sätze zu beenden, bevor ich ihn aussprechen konnte.
Eine Saison später gelang es mir, aus den Puzzleteilen, die mir peu à
peu aufgedeckt wurden – teils im Wachzustand, teils im Traum –, ein Bild der
Vergangenheit zusammenzusetzen. Auf dem Weg zur Arbeit hatte ich einen Umweg
genommen, weil ich ein Geburtstagsgeschenk für Nina kaufen wollte. Deswegen
wählte ich die Autobahn und deswegen geriet ich beim Einscheren hinter diesen
Lastwagen. Dann der Schock, als die linke Seite der zweiflügeligen Hecktür
plötzlich aufklappte und den Blick auf eine Frauengestalt freigab, deren
nackter Körper sich hell gegen das Wageninnere abhob. Für einen Moment schien
sie mich direkt anzusehen, im nächsten flog sie auf mich zu, die Arme
ausgebreitet, als wollte sie mich umarmen. War ich sie? Dann hatte die Puppe
den Unfall unbeschadet überstanden, während ich starb und mein Bewusstsein in
dem Puppenkörper landete, um später in einem Lagerraum für ebenjene
Kunstgeschöpfe zu erwachen … Wie so etwas möglich sein konnte und weshalb,
darüber zermarterte ich mir von nun an fast unentwegt das Hirn. Das Paradoxon,
dass ich ein solches streng genommen nicht besaß, machte es nicht einfacher.
Saison folgte auf Saison. Die aktuelle Frühlingsmode, neue
Bademodentrends, Herbstkollektionen und schicke Winter- und Festtagsoutfits
wechselten in regelmäßigen Abständen. Ich prägte mir jeden Stil ein, sowohl aus
Langeweile als auch um zu ermessen, wie lange mein Aufenthalt – Strafe? – Exil?
– schon währte. Ich wurde zum Modeprofi. Giselle und ich unterhielten uns über
kalte und warme Farbtöne, Stile und Schnitte; vielmehr plapperte Giselle endlos
über diese Dinge, das einzige Thema, das sie interessierte. Soeben ließ sie
sich über Kniffe aus, mittels Kleidung figürliche Schwachpunkte zu überdecken.
Als ob sie mit solchen zu kämpfen hätte. Höchstens mit einem Mangel an Denk-
und Empfindungsvermögen, aber so was dürfte erheblich schwieriger zu kaschieren
sein als ein paar Kilos zu viel.
Ich wollte sterben. Mein Zustand machte mich fertig, und Giselles
Gleichgültigkeit widerte mich an. Mein Sehvermögen begann nachzulassen, als
legte sich ein Schleier über meine Augen, der vielleicht nur auf einer
Staubschicht beruhte, vielleicht aber das Symptom von etwas Gravierenderem
darstellte. Möglicherweise verlor ich allmählich den Verstand. Es begann damit,
dass ich vergaß, wie oft die Weihnachtsdekoration wiedergekehrt war –
Holzschlitten, Kunstschnee, Plastik-Tannenzweige, Glitzerkugeln –, die unser
intimitätsloses Heim Winter für Winter festlich schmückte. Sechs-, siebenmal?
Häufiger? Die Jahreszeiten und Kollektionen zogen vorbei; ich registrierte den
Wechsel teilnahmslos, wie mich auch das Kommen und Gehen der Menschen vor dem
Fenster unberührt ließ. Mehr und mehr wurde ich zu dem, was ich nach außen hin
verkörperte, der Imitation eines menschlichen Wesens. Eine Zeit lang versuchte
ich noch, mir die früheren Modetrends ins Gedächtnis zu rufen, zusehends
vergeblich, alles zerfloss und verschmolz miteinander. Aus vielen verschiedenen
Kollektionen wurde eine einzige, absurd bunt und überladen. Viel mehr Puppen
schienen das kleine Fenster zu bevölkern, und sie trugen Bikinis und
Wollmützen.
Zur Wahl des Horrorpreises geht es hier: Vincent Preis 2020.
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