Martin Mächler – Verschränktes Schicksal (Zwielicht 15)
Zwielicht 15 ist im Dezember erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020/21.
Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme. Nikola Tesla war ein bemerkenswerter Charakter. Ein Pionier in Sachen Energieübertragung ist er Mittelpunkt und Protagonist der Geschichte Verschränktes Schicksal, in der berichtet wird, was wirklich passiert, wenn drahtlos Energie übertragen wird.
Aber lesen Sie selbst, die vollständige Geschichte kann in Zwielicht 15 nachgelesen werden:
Martin Mächler
– Verschränktes Schicksal
„Werte Mitarbeiter von
Impulse Incorporated, ehrenwerte Gäste! Die drahtlose Energieübertragung wird
in wenigen Wochen bereit sein, um über das transkontinentale Energienetzwerk
erstmalig flächendeckend ganze Staaten mit Strom zu versorgen. Es ist mir eine
Freude, diesen Durchbruch rechtzeitig zum fünfzehnten Jahrestag unseres
Unternehmens verkünden zu können”, rief Geschäftsführer David Chapman von
seinem Rednerpult den Zuhörern aus der High Society New Yorks zu.
Nikola Tesla – schwarzer
Schnurrbart, adrett zurückgekämmtes Haar, dunkle, freundlich wirkende Augen und
ausnahmsweise im Frack – verkniff sich ein Grinsen. Chapman verbarg sein
Unwissen über das Projekt geschickt hinter gut gewählten Sätzen, die ein
Redenschreiber für ihn aufbereitet hatte. Der Geschäftsführer dachte nur an die
Dollar, die er durch das Projekt einnehmen würde. Nikola atmete tief durch;
hoffentlich fand das Gerede bald ein Ende.
Schon vor dem Beginn des
Projekts hatte Nikola die Vorstellung eines globalen elektrischen
Übertragungssystems fasziniert, das auf drahtloser Energieübertragung und
elektromagnetischen Wellen basierte. Noch vor zehn Jahren dachten die meisten
Wissenschaftler, sein Konzept des Welt-Energie-Systems sei das Hirngespinst
eines Verrückten. Doch Nikola bestätigte seine Theorien, als er den
Sekundärraum entdeckte. Die Ausdehnung existierte unabhängig von der physischen
Welt und konnte durch gezielte Versuche der kabellosen Stromübertragung mit
speziellen Impulsgeneratoren angesteuert werden.
Nikola blickte kurz zum
Wandkalender: In zwei Wochen, am 24. November 1921 sollte über den Sekundärraum
Strom nach Europa eingespeist werden. Bis dahin war der letzte Test in
Zusammenarbeit mit einem Labor bei Paris geplant, um einen reibungslosen Ablauf
der Übertragung zu gewährleisten.
Chapman deutete über das
Rednerpult auf Tesla.
„Zweifellos werden Sie,
lieber Mister Tesla, der als Projektleiter gemeinsam mit unseren besten
Wissenschaftlern, Ingenieuren und Technikern dieses Wunder verwirklichen
konnte, mit Stolz erfüllt sein. Wir danken Ihnen für Ihre kühnen Visionen, ohne
die wir heute hier nicht sitzen würden und einer besseren Zukunft
entgegenblicken könnten. Im Wettlauf mit Edisons Stromgiganten wird uns das
Energienetzwerk einen großen Vorsprung verschaffen. Darüber hinaus werden wir
unseren Kindern und kommenden Generationen eine Welt des Friedens, Fortschritts
und Wohlstands vererben.”
Chapman hob mit einem
Glas Champagner zum Toast an, die Gäste griffen ebenfalls zu ihren Gläsern.
Nikola tat es ihnen
widerwillig gleich. Ihm wurde in diesem Moment wieder bewusst, welch eine
Verantwortung er gegenüber den Menschen trug, die von seinem Projekt
profitieren würden. Vorausgesetzt, er konnte mit seinen Bedenken endlich zu
Chapman durchdringen. Denn nicht alles am Projekt war so fabelhaft, wie der
Geschäftsführer es in seiner Rede darstellte.
„Doktor Tesla!” Chapman
drückte sich nach seiner Rede durch die Menschenmenge und schob dank seiner
enormen Masse die Gäste beiseite. Viele von ihnen machten sich am Buffet zu
schaffen. Gekleidet in Smoking mit Schal und Schleife schwenkte er seinen
Martini dabei unbeholfen hin und her und machte einen nervösen Eindruck.
„Jetzt, wo wir den
abschließenden Test bald durchführen werden – wann denken Sie, werden wir in
der Lage sein, die ersten Städte in Amerika und Europa mit Strom zu versorgen?”
Wie konnte Nikola Chapman
überzeugen, die Tests zu verschieben? „Genau darüber wollte ich mit Ihnen
reden. Wie Sie wissen, kamen in den letzten Wochen gewisse Zweifel über den
Sekundärraum auf. Wir hatten noch nicht die Gelegenheit, ihn genügend zu
erforschen. Ich muss sichergehen, dass unsere Übertragungen keine negativen
Effekte auf uns oder den Sekundärraum selbst haben.”
„Ach Nikola. Wie wollen
Sie einen Raum erforschen, den wir nicht sehen, riechen, schmecken oder
vollends erfassen können? Sie haben endlich die Chance erhalten, auf die Sie so
lange gewartet haben. Jetzt müssen Sie nur noch zugreifen.” Chapmann ballte
dabei seine rechte Hand zur Faust. „Edison hat den Wettlauf der Stromgiganten
verloren und das weiß er. Warum zögern Sie jetzt, wo wir so kurz vor unserem
Ziel stehen, die Geschichte der Menschheit zum Besseren zu verändern?”
„Das wissen wir doch gar
nicht.”
Chapmans Faust kam
Nikolas Gesicht bedrohlich nahe. „Hören Sie, die Investoren warten bereits, ich
habe viele Versprechungen gemacht und bin enorme Risiken eingegangen, die sonst
kein Unternehmer auf sich genommen hätte. Die Tests werden wie geplant
stattfinden.” Chapman schnippte mit seinem Mittelfinger gegen Nikolas Fliege.
„Machen Sie sich nicht lächerlich. Oder wollen Sie wieder in der Gosse landen?
Sie pflegen einen teuren Lebensstil. Wer bezahlt denn Ihre Krawatten und
Handschuhe, hm? Unter einer Brücke in Brooklyn wird Ihre Tochter doch sicher nicht
schlafen wollen, oder? Muss ich Sie daran erinnern, dass nach Ihrem Projekt am
Wardenclyffe Tower und Ihrem Rausschmiss bei J. P. Morgan kein Investor mehr an
Sie glaubte und alle Sie für einen Spinner hielten?”
„Und doch hatte ich
recht!” Angewidert wandte sich Tesla von Chapman ab und ließ ihn in der Menge
stehen.
Die bisherigen Ergebnisse
der Energieübertragungen überraschten Nikola und sein Team immer wieder. Es war
bei jedem Versuch gelungen, die Reichweite der Übertragungen zu vergrößern.
Dabei wussten sie immer noch nicht genau, wie der Sekundärraum die Elektrizität
von einem Impulsgenerator über eine weite Distanz zu einem anderen leitete.
Nikola und sein Team verließen sich also bei jedem Test zu einem gewissen
Prozentsatz auf den begünstigenden Zufall. Seine Kollegen schienen sich an die
Zuverlässigkeit der Resultate gewöhnt zu haben, was Nikola missfiel. Wollte er
das Projekt weiterführen, war er vorerst dazu verdammt, nachzugeben und auf
Chapman zu hören.
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