Holger Vos – Rast der Kraniche (Zwielicht 15)
Zwielicht 15 ist im Dezember erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020.
Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme. Eine Frau in mittleren Jahren, der Zweifel, ob ihr jetziges Leben, mit Mann und Kind, die richtige Entscheidung war...
Aber lesen Sie selbst, die vollständige Geschichte kann in Zwielicht 15 nachgelesen werden:
Holger Vos –
Rast der Kraniche
Der Tod bringt die
wahre Freiheit, erst dann kannst du überall hin. – Mit diesem Satz im Kopf war Andrea heute
Morgen aufgewacht.
Jetzt sank die Sonne über dem Moor träge dem Horizont entgegen.
Birkenblätter raschelten im sanften Wind. Es roch nach Gräsern, und der Torf,
der in der Nähe nach wie vor abgebaut wurde wie zu Großvaters Zeiten,
verbreitete modrig-erdigen Duft. Eigentlich hätte es hier ganz schön sein
können.
Es war Ende Oktober; vormittags hatte es einen Herbstregen gegeben. Kraniche
versammelten sich zu Tausenden hier im Moor zur gemeinschaftlichen Rast. Ein
Ereignis für Naturinteressierte. Und dann gab es da noch diesen Kometen. Ein
toller Tag für Oliver, der mit Spiegelreflex und Teleskop ausgerüstet war.
„Hale-Bopp und die Vögel des Glücks!“, rief er. „Ist doch genial!“
Andrea nickte abwesend; sie wollte nicht hier sein. Als ob ihr Körper
sie davor warnte weiterzudenken, fühlte sie einen Stich in der Magengegend.
Doch sie ignorierte ihn. Lange hatte sie nicht mehr an Bel gedacht, hatte alles
Denken an sie erfolgreich verdrängt, bis gestern eine Postkarte von ihr
angekommen war. Eine schnöde Karte, kein Brief. Jahrelang hatte sie an dieser
ziemlich veralteten Form der Kommunikation festgehalten und Seiten mit ihrer
weit ausladenden Handschrift gefüllt. Diese Briefe waren für Andrea immer der
geliebte Rest eines alternativen Lebens gewesen, die Möglichkeit einer Rückkehr
in das Andere. Seit zwei Jahren nun verlief ihr Leben niederschmetternd
vorhersehbar. Bels Karte: eine rotstichige Erinnerung in der grauen
Eintönigkeit, zu der Andreas Leben geworden war.
Sie schluckte trocken; wann hatte es eine so fade Wendung ins
Belanglose, allzu Normale genommen? Wahrscheinlich hatte es so kommen müssen,
weil das Mädchen, das sie gewesen war, sich die Eltern – unabsichtlich! – zum
Vorbild genommen hatte und nun dabei war, eine neue Version ihrer Mutter zu
werden. Das Rad dreht sich immer …
„Andrea!“, zischte ihr Mann und unterbrach jäh ihre Grübelei. „Wie
lange soll Tobi noch betteln, bis du ihm was zu trinken gibst?“
Gedankenverloren war sie vorausgegangen und blieb nun stehen, schaute
sich um. „Herrgott, Oliver, beruhig dich“, murmelte sie. „Ein bisschen warten
wird ihn schon nicht umbringen.“ Sie nahm ihren Rucksack vom Rücken, setzte sich
auf eine Bank und kramte eine Wasserflasche hervor. „Hier, Kleiner.“
„Ich will auch was!“, rief ihr älterer Sohn und beschwerte sich
lautstark, dass Tobi immer zuerst drankäme.
Zwei Mädchen, älter als ihre Jungs, gingen an ihnen vorbei, danach
deren Eltern, die ziemlich auf ihr Äußeres bedacht wirkten. Der Mann warf einen
Blick auf sie und ihre Familie, und – vielleicht bildete sie es sich nur ein –
er sah herablassend zu ihnen, als ob er sagen wollte: Kriegt eure Bälger in den Griff.
Andrea seufzte. Sie sagte nichts, sondern atmete nur tief ein und
ertappte sich dabei, wie sie peinlich berührt zu der anderen Familie
hinübersah, die einige Meter vorausgegangen, aber noch in Hörweite war. Der
Mann wandte sich um und schien sie direkt anzusehen, als er sagte: „Sie wartet
auf dich, Andrea. Fahre ihr entgegen.“
Ein unangenehmes Kribbeln ging durch ihre Eingeweide, und ihre Stirn
wurde ganz kalt. Sie hielt den Atem an und erstarrte für einen Augenblick. Dann
schüttelte sie die Lähmung ab und lief der Familie nach. „He, Sie! Was haben
Sie da gerade gesagt?“
Der Mann, der inzwischen weitergegangen war, drehte den Kopf zu ihr.
Sie spürte die musternden Blicke der Familie auf sich, fühlte sich in
Bedrängnis und bereute es, ihn angesprochen zu haben. „Wie bitte?“
„Sie haben doch etwas zu mir gesagt. Ich … habe es nicht verstanden.“
„Da haben Sie wohl etwas falsch verstanden. Ich habe mit meiner Frau
gesprochen. Schönen Tag noch“, versetzte der Mann und lächelte schulterzuckend
seiner Familie zu.
„Ebenso“, murmelte Andrea und sah den Fortgehenden verwirrt nach. Ich hab mich nicht verhört. Er hat „Andrea“
gesagt … Wer wartet auf mich? Aber vielleicht heißt seine Frau wie ich, oder
eine seiner Töchter? Zum zweiten Mal an diesem Tag dachte sie an Bel –
konnte es sein, dass Bel auf sie wartete? Aber wo, und warum jetzt? Sie fühlte
ein Stechen in der Brust.
Sollte Ihnen die Geschichte gefallen haben, würden wir uns über eine Stimme beim Vincent Preis freuen. Zur Wahl des Horrorpreises geht es hier: Vincent Preis 2020.
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