Michael Tillmann - Dark Tourism - Endstufe (Zwielicht 14)
Zwielicht 14 ist im Juni 2020 erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020/21.
Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme.
Michael Tillmanns „Dark Tourism - Endstufe“ bringt uns das Schicksal einer jungen, einsamen Frau näher. Die US-Amerikanerin bucht eine Reise zu mystischen Schauplätzen in England - inklusive Übernachtung in einem Spukzimmer… letzteres mit Folgen.
Die vollständige Story findet sich in Zwielicht 14:
Michael Tillmann - Dark Tourism – Endstufe
„I have the right to spend my time
As I wish
You can go to a beach
While I fall into abyss“
„Holiday in the Cemetery“
SPIRITUS MORTIS
Dark Tourism, der Urlaub an
unheimlichen Orten, hat viele Gesichter. Beth wollte sich von den Leuten
abgrenzen, die solche Plätze wie Tschernobyl oder gar Auschwitz besuchten. Sie
liebte es dunkelromantisch, wenn möglich mit einem Hauch des Übersinnlichen.
Also eher jahrhundertealte Friedhöfe, Katakomben oder eine klassische Ghost
Tour durch die Seitenstraßen einer berühmten, altehrwürdigen Stadt in
Europa. Daher nannte Beth ihr Hobby nicht Dark Tourism sondern Mystic
Tourism.
Natürlich
muss jeder mit sich selber ausmachen, was mystisch (die ursprüngliche
Bedeutung, dass Mystik immer etwas mit Religion zu tun hat, beachten wir einmal
nicht) und was einfach nur geschmacklos ist. Aber selbst Beth gab zu, eine zu
moralische Herangehensweise an dieses Thema sei „ätzend“. So wie alles an zu
viel Moralismus ätzend ist, immer. Man könnte sich jedoch wenigstens darauf
einigen, aktueller Katastrophentourismus und Orte rechter, linker oder
religiöser Gräueltaten „gehen echt gar nicht“.
Die Liebe
zum Mystic Tourism hatte für die junge Frau damit begonnen, dass sie
während eines Italien-Urlaubs mit ihren Eltern am Gardasee ganz zufällig
erfuhr, dass es dort zwei bedeutende Beinhäuser gab. Ein früherer Gast des
Hotels hatte entsprechende Postkarten im Nachttisch liegen gelassen.
Beth
besuchte diese Gedenkstätten direkt am nächsten Tag. Die kirchenschiffhohen
Regale voller sehr akkurat abgelegter Totenschädel zogen sie in ihren Bann.
Ohne Zweifel faszinierender als die Fahrt mit dem Motorboot, die ihr Vater so
„spritzig“ fand.
Inzwischen
hatte Beth viele weitere mystische Orte besichtigt. Darunter auch recht
ausgefallene, wie beispielsweise das Kloster in Deutschland, von dessen
Geschichte in der Abhandlung „Bemerkenswerter Bericht, welcher beschreibt,
wie der ehrwürdige Bruder Michael seinen Seelenfrieden in einem Beinhaus fand“
die Rede ist. In einem stillen Moment glaubte sie dort, so etwas wie eine
Seelenverwandtschaft zu Bruder Michael zu fühlen.
Beth machte
sich allerdings auch Gedanken darüber, dass viele dieser ausgefallenen Reiseziele
nur deshalb ihren spirituellen Charakter langfristig bewahren konnten, weil sie
halt Secret Places waren. Eine einsame, fast vergessene Burgruine im Deutschen
Wald zum Beispiel konnte sicherlich ein mystisches Erlebnis sein. Wenn aber im
Gegenzug in Peru Abertausende von Touristen durch Machu Picchu durchgeschleust
werden, so kommen dort keine magischen Gefühle mehr auf. Einerseits suchte Beth
natürlich ständig nach Informationen zu Secret Places, andererseits konnte es
einem Ort schaden, wenn er auf einer Influencer-Homepage, in einem Reiseführer
oder gar in einer Geschichte eines Schriftstellers erwähnt wurde. Ein
unlösbarer Zwiespalt.
Neben
solchen theoretischen Betrachtungen gab es für Beth auch noch ganz praktische
Schwierigkeiten. Hierbei blieb das größte Problem bei solchen Exkursionen, dass
sie solo war und ihre Freundinnen nur sehr bedingt ihre Interessen teilten. Sie
musste also, wenn sie nicht alleine reisen wollte, die Damen mit einer weiteren
Attraktion ködern. Man sagt zum Beispiel, der Friedhof von Mailand sei einer
der schönsten der Welt, aber ihre Freundin Linda fuhr damals nur mit, weil sie
in dieser Modestadt schlicht und einfach Klamotten shoppen wollte.
So schien
für Beth eine mehrtägige, geführte Rundreise zu mystischen Orten ausgeschlossen.
Es sei denn, sie raffte sich auf, um sich alleine einer solchen Reisetruppe
anzuschließen. Irgendwie kam sie sich als Single in solchen Situationen aber
immer sozial deplatziert vor.
Als sie
jedoch in Richard Jonesʼ „Walking Haunted London. 25 Original Walks
Exploring Londonʼs Ghostly Past“ im quasi Zusatzkapitel von „Pluckley:
Englandʼs Most Haunted Village“ gelesen
hatte, konnte sie nicht widerstehen, nach einer entsprechenden Tour zu googeln
und diese in einem Anfall von seltener Selbstsicherheit beim Veranstalter THE
WHISPERERS (Name von der Redaktion geändert) auch direkt zu buchen.
Das würde
nicht billig werden, zumal Beth als Amerikanerin bei Europatouren
logischerweise immer eine lange Anreise hatte. Da sie aber außer Fernsehen und
etwas Lesen keine anderen Hobbys besaß, ging es schon irgendwie.
Die Tour
sollte vier Tage beziehungsweise Nächte dauern. Am Tage der Ankunft im
Ausgangspunkt London gab es zuerst einen Abend in einem angeblich heimgesuchten
Pub der Metropole. Wenn man von Dublin einmal absah, gab es wohl nirgends auf
der Welt so viele Kneipen mit übersinnlichen Phänomenen wie in London.
Dort im Pub
sollten sich die zehn Teilnehmer in gemütlicher, ungezwungener Runde
kennenlernen. Am nächsten Tag gab es nach normalem Sightseeing eine lange nächtliche Ghost Tour kreuz und
quer durch die Metropole.
Nach dem
Ausschlafen stand die Fahrt nach Pluckley an und später dann dort eine noch
längere Ghost Tour.
Am letzten
Tag gab es etwas ganz Besonderes. Es ging noch tiefer ins ländliche England.
Nach einer Landpartie stand eine Übernachtung im luxuriösen Domizil Oakwood
Hall (Name von der Redaktion geändert) an. Ein legendäres Haus, welches
sage und schreibe drei Spukzimmer mit Schlafmöglichkeit sein Eigen nannte. Die
drei Räume sollten ausgelost werden. Am nächsten Morgen sollte es dann „für die
Überlebenden“ (wie der Reiseplan von THE WHISPERERS es beschrieb) zurück nach
London gehen. Danach wollte Beth noch für einen Tag alleine nach Stonehenge
weiterziehen.
Zur Wahl des Horrorpreises geht es hier: Vincent Preis 2020.
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