Sascha Dinse - Mel (Zwielicht 14)
Zwielicht 14 ist im Juni 2020 erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020/21.
Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme. Ein Musiker hat merkwürdige Träume. Und immer häufiger das Gefühl, sein Leben mit Nichtigkeiten zu vergeuden. Da begegnet er eines Tages der rothaarigen Mel. Sein Freund und Bandkollege Oliver warnt ihn, dass Rothaarige keine Seele haben. Umsonst. Fortan ist er der Frau verfallen und lässt sich auf ihre esoterischen Spiele ein. Bei Sascha Dinse - Mel (Zwielicht 14) durchweht ein Hauch von Lovecraft die Geschichte. Die vollständige Story findet sich in Zwielicht 14:
Sascha Dinse - Mel
Ich spüle den Rasierer aus und
beobachte einen dunkelroten Punkt dabei, wie er seine senkrechte Spur auf
meiner Haut hinterlässt, die von dem Schnitt auf der linken Wange ausgeht. Mit
der Fingerspitze nehme ich den Blutstropfen auf und will gerade nach dem
Handtuch greifen, als mit einem Mal irgendetwas in meinem Verstand aufblitzt,
formlos noch, aber greifbar nah. Direkt nach dem Aufwachen konnte ich noch die
Bilder meines Traumes in der Ferne verblassen sehen, und sie klingen schon den
ganzen Morgen über in mir nach, doch nur wie ein Echo, das diffuser wird, je
öfter es auf mich zurückfällt. Instinktiv verreibe ich das, was wie eine rote
Perle aussieht, auf meiner Fingerkuppe und spüre, dass die Erinnerung eine
konkrete Form annimmt. Eine blutige Hand, zitternd. Dann ist es vorüber.
Ich drehe die Dusche auf und lasse
warmes Wasser den letzten Rest von Schlaf aus meinem Körper spülen. Zum Abschluss
stehe ich mit geschlossenen Augen da, den Kopf in den Nacken gelegt, und
genieße das Prasseln auf meinem Gesicht, sechzig Sekunden lang, mein
Morgenritual. Währenddessen mache ich meine Gedanken frei, konzentriere mich
einzig auf das Zählen und wünsche mir ein weiteres Mal, diesen Zustand für
immer festhalten zu können. Doch schon kurz danach, beim Heraussteigen aus der
Duschkabine und noch bevor die Luft außerhalb klamme Finger über feuchte Haut
streichen lässt, ist sie wieder da, diese Ahnung, dass ich mein Leben mit
Nichtigkeiten vergeude, statt vollkommen in dem aufzugehen, wofür ich
geschaffen wurde.
Einen Kaffee später fühle ich mich
halbwegs in der Verfassung, den Herausforderungen eines neuen Tages
gegenüberzutreten, schalte die Musik ab und steige in meine Schuhe. Beim Griff
nach der Jacke fällt mir ein langes, kupferrotes Haar auf, das sich im groben
Stoff verfangen hat. Überrascht ziehe ich es ab und halte es zwischen Daumen
und Zeigefinger, während ich mich frage, woher es stammt. Plötzlich fällt es
mir wieder ein. Natürlich, das Mädchen auf dem Campus gestern. Vom Nachmittag
bis spät in die Nacht war ich so sehr mit anderen Dingen beschäftigt, dass ich
sie glatt vergessen habe. Sie hat diese komische Sache gesagt und auch wenn ich
mich nicht daran erinnern kann, so werde ich das Gefühl nicht los, dass ich sie
von irgendwoher kenne.
In diesem Augenblick vibriert mein
Telefon. Nachricht von Mary, sie fragt, wann wir uns heute Abend sehen. Ach
verdammt, waren wir verabredet? Die Tür fällt hinter mir ins Schloss, ich werfe
den Rucksack über meine Schulter, und auf dem Weg die Treppen hinab kreisen
meine Gedanken einzig darum, welche Ausrede ich ihr heute auftischen könnte.
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