Dirk Ryll – Wohin der Grimm der Toten verschwindet (Zwielicht 15)
Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme. Eine Tankstelle, ein Mann, der dort arbeitet und seltsame Begebenheiten erlebt. Ist die Welt verrückt? Oder doch er selbst?
Aber lesen Sie selbst, die vollständige Geschichte kann in Zwielicht 15 nachgelesen werden:
Dirk Ryll –
Wohin der Grimm der Toten verschwindet
Grnchrr hatte erst
wenige Wachen am Tor halten müssen. Kein Wunder, er war ja auch erst seit ein
paar Jahren tot.
Wache halten konnte
man wirklich nicht aufregend nennen. Man stand dort nur in den besonderen
Nächten und half den anderen, den Veteranen, nach ihren Aufträgen wieder zurück
in ihre Welt.
Schon bei seiner
zweiten Torwache hatte er erkannt, dass viele der Rückkehrer – ganz egal, wie
albtraumhaft ihre Erscheinung war – tatsächlich Beistand benötigten. Sie hatten
während des Aufenthalts bei den Lebenden ihre Orientierung und allen Grimm
verloren.
Vielleicht hätte
Grnchrr jemanden fragen sollen, was drüben denn eigentlich Schlimmes passierte.
Aber bisher hatte er nie jemanden sprechen hören im Totenreich, also schwieg
auch er. Andere Informationsquellen kannte er nicht.
Nun, er würde es
heute selbst erleben, denn vor Kurzem war in seinem Verstand ein Auftrag
erschienen. Er verstand es als eine Art Beförderung, dass er erstmals das Tor
nicht bewachen musste, sondern hinüberwechseln und etwas erledigen durfte.
Es kostete ihn
einige Mühe, die Koordination seiner Glieder zurückzugewinnen, denn seit der
letzten Nacht zum Winterbeginn vor genau einem Jahr hatte er sich nicht mehr
bewegt. In einigen Gelenken hatte sich Asche abgesetzt und so knirschten und
quietschten sie wie ein rostiger Zug beim ersten Anfahren an einem nebligen
Morgen. Außerdem vermisste er seitdem ein paar stabilisierende Knochen,
weswegen er beim Gehen mehrmals unfreiwillig die Richtung änderte.
Trotz aller
Hemmnisse meisterte er den Weg zu der Stelle auf dem kleinen Hügel, an der das
Tor entstehen würde. Dort stand er nun mit drei weiteren Gestalten in der
Dunkelheit und wartete. Sie schwiegen natürlich, dennoch war die kalte Luft
voller unerfreulicher Geräusche.
Der Brustkorb des
großen schwarzen Laufvogels rechts neben ihm sah aus wie von innen
aufgebrochen, und der scharfe Wind regte in dem hohlen Brustraum ein tiefes Dröhnen
an. Ein knöcherner und augenloser Specht hackte mechanisch auf der mit Moos und
Schimmel überzogenen Ritterrüstung herum, die unmittelbar vor Grnchrr
quietschend hin und her schwankte. Und auf dem Boden zwischen den Beinen der
drei krümmte sich träge eine armdicke Schlange. Anders als ihre lebendigen
Artgenossen aber nicht lautlos, sondern mit einem deutlichen Knistern als
bräche man ein Bündel Stroh.
Es stank erbärmlich
wie am Schauplatz eines vielfachen Mordes, den man erst Wochen nach der Tat
entdeckt hatte. Vermutlich war der Ritter in einem Moor zu Tode gekommen. Sein
Umhang dampfte von schlammiger Feuchtigkeit und man konnte ihm beim Verfaulen
zusehen.
Glücklicherweise
funktionierten Grnchrrs Sinne anders als zu seinen Lebzeiten. Er konnte zwar weiterhin
hören, riechen, tasten und all das, aber was er wahrnahm wurde nicht mehr in
ein Gefühl übersetzt. Aus seiner Erinnerung wusste er noch, was ‚entsetzlich‘
bedeutete, aber er empfand es nicht mehr.
Seit einer Weile
hatte sich keines der Wesen von seinem Platz bewegt. Erst als vor ihnen ein
dunkelrotes Glimmen mitten in der Luft entstand, stellten alle einen Fuß,
Stumpen oder eine Kralle vor, so wie kleine Jungen, die am Strand auf das
Heranrollen einer Welle warteten. Das Glimmen verlängerte sich zu einem
mannshohen, zuckenden Strich und dieser teilte sich nun in zwei Stränge, die
langsam voneinander wegdrifteten und eine Öffnung bildeten. Wenn man die Augen
zusammenkniff, dann konnte man dahinter eine nächtliche Landschaft erkennen:
Die Welt der Lebenden.
Fühlte Grnchrr so
etwas wie Sehnsucht oder Freude darauf, zurückzukehren? Nein, das war nicht
möglich. Auch solche Empfindungen konnten seine vertrockneten Nervenstränge
nicht mehr hervorbringen. Und dennoch, irgendetwas regte sich in ihm.
Die vier Wesen
weiteten ihre Nasenflügel, sofern sie welche hatten, als sie rochen und
spürten, dass etwas durch das Tor zu ihnen herüberströmte. Eine Aura, gesättigt
mit Gerüchen, die es auf ihrer Seite nicht gab. Grnchrr grunzte und scheuchte
den Eindruck aus seinem ohnehin schwachen Bewusstsein.
Der Übergang hatte
seine volle Größe erreicht und die Stränge verharrten zitternd an ihrer
Position.
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