Tobias Lagemann – Nachtschalter (Zwielicht 15)

 

 

Zwielicht 15 ist im Dezember erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020/21

Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme. Eine Tankstelle, ein Mann, der dort arbeitet und seltsame Begebenheiten erlebt. Ist die Welt verrückt? Oder doch er selbst?

Aber lesen Sie selbst, die vollständige Geschichte kann in Zwielicht 15 nachgelesen werden:

Tobias Lagemann Nachtschalter

 

Radio, nein, hörte ich in der ersten Nacht nicht. Ich durfte es nicht, das wäre schlecht fürs Geschäft. Zwar war mein Chef in meinen Schichten noch nie vorbeigekommen, um nach dem Rechten zu sehen, aber ich wusste von Kollegen der Nachmittagsschicht, dass er Überraschungsbesuche liebte. Er würde einem Geist gleich auftauchen, man würde ihn nicht kommen sehen, auch nicht hören, er würde einfach nur vor dem Nachtschalter stehen. Schweigend. Und dann, wenn man Radio hörte, sagen, das wäre das letzte Mal gewesen, im Wiederholungsfall käme die Kündigung.

Natürlich hörte ich dennoch Radio, mit irgendetwas musste ich die langen Stunden von 21 Uhr abends bis 6 Uhr in der Früh ja füllen. Aber vor 1 Uhr schaltete ich das Radio nicht ein, der Zeitpunkt war mir von Kollegen als sicher genannt worden. Später sei der Chef noch nie vorbeigekommen. Einen anderen Tipp bekam ich von ihnen auch: Lesen, versuche es mal mit Lesen.

Ja, ich habe gelesen. In der ersten Zeit waren die Bücher nur so durch meine Hände gewandert. Abends aufgeschlagen, irgendwann gegen morgen zugeschlagen.

Aber ich war nie ein Leser gewesen und wurde es auch nicht. Ich vertrieb mir mit den Büchern nur die Zeit, da war kein Hunger nach Geschichten, noch weniger einer nach Sprache. Entsprechend war meine Lektüre ausgefallen.

Krimis.

Thriller.

Krimis.

Horror.

Krimis.

Ich besorgte mir die Bücher in einem Second Hand-Laden, dort wurde nach Zentimeter bezahlt. Von all den Büchern, die ich in der Zeit gelesen habe, ist mir keines in Erinnerung geblieben. Es gab coole Helden, es gab noch coolere Frauen. Es gab Mord. Verschwörungen. Rache. Agenten. Terroristen. Aber was in den Büchern geschah, verschwand mit dem Anbruch des neuen Tages.

Was ich damit sagen will?

Ich hasste den Job.

Aber ich brauchte ihn, Mieten zahlen sich nicht durchs Nichtstun. Zwar war auch Arbeitslosengeld eine Möglichkeit, aber die war mit der Notwendigkeit verbunden, dass ich mich bewarb. Auf Stellen, die von meiner Sachbearbeiterin vorgeschlagen wurden. So war ich irgendwann auch an die Tankstelle geraten und damit an den Nachtschalter.

Gut bezahlt war der Job nicht, aber ich kam über die Runden. Und mehr wollte ich nicht, nur über die Runden kommen. Daher hörte ich in der Nacht, als der Mann zum ersten Mal kam, kein Radio. Ich durfte den Job, auch wenn ich ihn hasste, nicht verlieren.

Ich saß auf meinem Stuhl und blätterte mich durch die Sonderausgabe einer Radsportzeitschrift zur Tour de France. Ich fuhr zwar kein Rennrad, aber die Bilder von den Rennmaschinen sahen gut aus. Kurven schneidend, die Farben in der Sonne erstrahlend, blinkende Ritzel. Und dazu Bilder siegreicher Fahrer, muskelbepackt die Beine, vor Kraft verzerrte Gesichter nah der Ziellinie. Und Sonnenbrillen, es gab Sonnenbrillen. Wenn die Sieger auf dem Podest standen, dann hatten sie Sonnenbrillen hoch in die Stirn geschoben.

„Störe ich?“

Mir fiel die Zeitschrift beinah von der Theke, so zuckte ich bei den Worten aus der Gegensprechanlage zusammen.

Mein Chef?

Nein, ein Kunde. Durch das beschlagene Glas sah er irgendwie konturlos aus, wie ein Nebelfetzen.

Ich stand auf, machte die drei Schritte zum Nachtschalter.

„Welche Nummer?“, fragte ich und wischte mit einem Tuch die Scheibe ab. Schon besser, jetzt konnte ich den Mann klar erkennen.

„Seit wann gibt es hier eine Tanke?“

„Wie?“

„Seit wann es hier eine Tankstelle gibt“, sagte der Kunde. Er trug einen offenen Mantel, darunter einen roten Pullover und eine schwarze Hose. Ich schätzte ihn auf fünfzig Jahre. Sein Gesicht war voller Falten, der Mund schmal, die Augen müde.

Ich schaute auf die Uhr. Halb eins. Um die Zeit durfte man müde sein. Aber warum trug der Mann einen Mantel, auch der Pullover schien mir unpassend. Es war Sommer, die Nacht war angenehm warm.

„Wollen Sie mir nicht antworten?“

„Ich weiß es nicht.“

„Aber Sie werden doch wissen, ob Sie mir antworten wollen oder nicht.“

„Ich weiß nicht, seit wann es diese Tankstelle gibt.“

„Es gibt hier keine Tankstelle, es hat hier noch nie eine gegeben.“ Der Mann starrte mich bei diesen Worten mit durchdringendem Blick an, die Augenbrauen drohend zusammengezogen, die Stirn in Falten gelegt, die mich an einen Shi-Tzu erinnerten.

„Aber wir sind hier, Sie und ich. Und wir sind von einer Tankstelle umgeben, also gibt es diese Tankstelle. Denn es gibt ja auch Sie und mich.“

Der Mann schwieg, starrte mich nur an. Ich wich seinem Blick nicht aus, warum auch? Ich wusste nicht erst seit meiner Zeit am Nachtschalter, dass es jede Menge Irre gab. Und nachts waren davon besonders viele unterwegs. Nein, ich korrigierte mich, nachts ließen die ihren Wahn einfach mal raushängen. Müdigkeit, Alkohol, vielleicht ein Streit, das ließ ein paar Sicherungen durchknallen.

„Welche Nummer?“, fragte ich.

Der Mann hob die Hände, begann zu lächeln. „Sehen Sie hier einen Wagen?“

Ich blickte zu den Tanksäulen, nirgends ein Wagen. Auch kein Motorrad.

„Sehen Sie einen?“

„Nein.“

„Wie auch, es gibt diese Tankstelle ja nicht.“ Aus dem Lächeln des Mannes wurde ein Lachen, aber es klang nicht freundlich oder amüsiert. „Hier hat es noch nie eine Tankstelle gegeben.“

„Möchten Sie etwas kaufen? Cola, Bier, Chips, Schokoriegel?“

„Kapierst du nicht, Junge? Dich gibt es nicht.“

Ich wandte mich von dem Mann ab, ging zu meinem Stuhl. Unterhalb der Theke lag mein Handy, ich zog es hervor, löste das Ladekabel. Ich schaltete die Kamera ein, startete die Videofunktion und filmte in einem langsamen Schwenk das Innere der Tanke.

„Junge, lass das. Ich mag es nicht, wenn man mich filmt.“

„Hier wird jeder gefilmt, ob Ihnen das passt oder nicht, diese Tankstelle ist videoüberwacht. Aber hiermit“, sagte ich und wackelte mit dem Handy, „filme ich nicht Sie, sondern den Verkaufsraum.“

„Scheiß Überwachung.“

„Haben Sie getrunken? Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“

„Es gibt all das hier nicht, hat es nie gegeben.“

Ich wischte mich in die Galerie, startete das aufgenommene Video und presste es direkt vor dem Gesicht des Mannes an die Scheibe.

„Was ist das, ein Kartenspielertrick?“

„Das zeigt das Innere der Tankstelle …“


Sollte Ihnen die Geschichte gefallen haben, würden wir uns über eine Stimme beim Vincent Preis freuen. Zur Wahl des Horrorpreises geht es hier: Vincent Preis 2020.

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