Michael Siefener - Die Fabrik (Zwielicht 14)


Zwielicht 14 ist im Juni 2020 erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020.

Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme. In Zwielicht 14 erzählt uns Michael Siefener in „Die Fabrik“ von der Hingabe eines menschenscheuen Nachtwächters an eine kleine blaue Blume, die, als er die Mutterblume entdeckt, zu Ekstase führt . Die vollständige Story findet sich in Zwielicht 14:


Michael Siefener - Die Fabrik 


Zoltan Zartek lebte schon lange in dieser Stadt, aber noch nie hatte er hier etwas so Schönes gesehen. Wie jeden Morgen kam er auf dem Heimweg von seiner Arbeit an der langen Ziegelmauer der alten Fabrik vorbei, und wie jeden Morgen war es noch dunkel. Im Sommer endete seine Schicht früher, sodass er es gerade noch schaffte, im Schutz der schwarzen Nacht seine Wohnung zu erreichen. Jetzt, im späten November, arbeitete er eine Stunde länger, ging aber nach Hause, noch bevor die Stadt ganz erwachte. Er war Nachtwächter in einem Bürogebäude, und er schätzte diese Tätigkeit, da sie es ihm ermöglichte, die Stadt, in der er als Fremder unter Fremden lebte, nicht bei Tage ertragen zu müssen. Und nun, auf dem Heimweg, sah er an jener langen Ziegelmauer der alten Fabrik, benetzt vom kalten Licht einer Straßenlaterne, aus einer der zerbröckelnden Fugen etwa in Kopfhöhe eine winzige blaue Blume hervorlugen. Sie bebte in einem schwachen Luftzug, schien ihm zuzunicken, ihn wie einen Freund zu grüßen. Im späten November. Er blieb stehen und betrachtete die kleine Blume. Um was für eine Art es sich handelte, vermochte er nicht zu sagen, doch welche Blume blühte im späten November, in der Dunkelheit, umnetzt von starrem Kunstlicht? Versunken stand er da, lächelte und bemerkte kaum, wie es um ihn herum lebhafter wurde. Die Stadt, diese Bestie, erwachte. Er zwang sich weiterzugehen.

In seiner Wohnung ließ er alle Rollläden herunter, wie jeden Morgen, und legte sich sogleich zu Bett. Er träumte von der kleinen, unmöglichen Blume.

Am nächsten Abend zog er die Rollläden wieder hoch, nachdem die Sonne untergegangen war, und wartete in seinem abgeschabten Sessel auf die Stunde, in der er erneut nach draußen und zur Arbeit gehen würde. Er empfand die Nacht als angenehm, und vor den Menschen, die sich in ihr bewegten, hatte er keine Angst. Sie waren Fremde wie er selbst. Es waren jene im Tageslicht, die für ihn gefährlich waren, wie er schmerzhaft hatte erfahren müssen. Den Bestien des Tages konnte er kaum ausweichen, wenn er draußen war, jenen der Nacht blieb er fern; die Finsternis schuf einen Schutz um jedes ihrer Kinder.


 Zur Wahl des Horrorpreises geht es hier: Vincent Preis 2020.

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