Thomas Kodnar - Lover´s Limb (Zwielicht 14)
Zwielicht 14 ist im Juni 2020 erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020.
Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme. In Zwielicht 14 preist Thomas Kodnar in „Lover’s Limb“ das Lob des Wanderers. Ein Paar ist im Auslandsurlaub auf Erkundungstour: ein malerischer, fast verwunschen wirkender Wald, eine ferne Burg und ein einsamer Weg - ideal für Liebende… bis der leibhaftige Pan ein Lied auf seiner Flöte spielt. Grund genug eine Textprobe für den interessierten Leser zu veröffentlichen, die vollständige Story findet sich in Zwielicht 14:
Thomas Kodnar - Lover´s
Limb
Eine Sackgasse.
Schon wieder. Langsam weigere ich mich, zu glauben, dass wir tatsächlich jedes
Mal aufs Neue den falschen Weg einschlagen. Vielmehr scheint es den richtigen
Weg gar nicht zu geben.
„Vielleicht hätten
wir unten links gehen müssen?“, meint Sebastien.
Ich halte den
leisen, aber sturen Zorn – ein Besucher aus einem weit entfernten Universum –
im Zaum, setze ein resignierendes Lächeln auf, bevor ich mich umdrehe, und
sage: „Ja, vielleicht.“
Also zurück und
unten links, und dort wieder weiter hinauf. Höher und höher führt uns der
angebliche Pfad zum Schloss. Ich bin nicht sportlich, nie gewesen, und für mich
ist das alles erstens neu, zweitens anstrengend, drittens: ein zweifelhaftes
Vergnügen. Freiwilliges Wandern. Ziellos im Ausland umherirren. Es kostet mich
bei weitem nicht so viel Überwindung, wie ich erwartet hätte, und ich schäme
mich nicht meines – wie soll ich es sonst nennen – alten Alter Egos, das Mühe
hat, an diesem Unterfangen Gefallen zu finden …
Aber es kostet mich
Überwindung.
Und ich überwinde
mich, weil ich mich eben doch schäme.
Mit Sebastien an
meiner Seite ist aber alles halb so wild. Alles.
Da ist eine kleine
Kapelle am Wegrand. Ich gestatte mir kurz die Hoffnung, eigentlich sogar die
sehr starke Vermutung, dass der Pfad an ihr vorbei uns dahin führt, wo wir hin
wollen. Wo genau das ist, ist sowieso noch unklar, da wir uns nicht wirklich
entschieden haben, was unser Ziel ist. Wir wollten wandern in diesem Wald, so
viel war klar. Wir wollten ein hübsches Weglein finden und darauf spazieren,
möglicherweise hoch zum Waldschloss, möglicherweise hinüber zur Totengrube.
Genauer haben wir das nicht besprochen. Sowas tun Sebastien und ich nicht,
Dinge im Detail besprechen. Das geht gegen sein Wesen. Und es geht gegen meine
neue Disposition. Wir sind eigentlich nur hergekommen, um spazieren zu gehen
und um die Gegend einmal gesehen zu haben. Steht ja in allen Reiseführern, dass
man hier einmal gewesen sein muss. Nicht zuletzt wegen der vielen Mythen, die
sich um den Wald ranken, von antiken Sagen um Dämonen, die hier immer noch ihr
Unwesen treiben sollen, bis zu den moderneren Märchen, die man sich
verschwörerisch im Internet erzählt: Monatlich gibt es neue fragwürdige
Berichte von Verschwundenen, und die agitierten, gelangweilten Websurferinnen
und Websurfer beschuldigen alles und jeden, angefangen bei „der Regierung“,
nicht endend mit Aliens. Sebastien hat gemeint, er will den Wald trotzdem
besuchen; ich will den Wald unter anderem deswegen
besuchen. Ich brauche Stoff für neue Bilder.
Dumme Geschichten
hin oder her, alle Reiseratgeber sind sich in einer Sache einig: Die Ästhetik
dieses Orts macht einen Besuch unverzichtbar. Und recht haben sie. Es ist
wunderschön hier.
In schweigsamer
Gelassenheit folgen wir einer kleinen Familie, die ebenfalls den heutigen Tag
gewählt hat, um dieses beliebte Reiseziel zu erkunden. So wie viele andere
auch. Aber die meisten anderen haben wir verloren, unten zurückgelassen, wo die
Straße sich zum ersten Mal spaltet und ein Großteil der Wandernden innegehalten
hat, um sich darauf zu besinnen, wie nun eigentlich fortzufahren ist, welcher
Weg es ist, den man bestreiten soll. Auf solche Kinkerlitzchen verzichtet
unsereins gerne.
Hinter der Familie,
die entweder ebenso draufgängerisch voranzukommen versucht wie wir oder aber
den richtigen Weg ohnehin kennt, trotte ich also einher und betrachte die Wand
neben mir, während Sebastien an meiner Seite in den Himmel guckt. Die Gassen
sind links und rechts von Mauern eingegrenzt, die aus unzähligen verschieden
großen Steinen bestehen und darin naturbelassen wirken, fast wie vertikal
aufgerichtete Kieselstrände, in die sich vereinzelte Felsbrocken verirrt haben.
Viele Türen sind in sie eingelassen, die Häuser dahinter nur schwer zu erahnen:
Die Mauern sind hoch, die Dächer, die über ihnen hervorlugen, schief und krumm
und löchrig und verhangen von Astwerk; vielleicht sind das nicht einmal Dächer,
sondern nur Platten, die sich in den Baumkronen verankert haben. Eine der Türen
zur Linken ist mit waagrecht angeordneten, hellen Holzbrettern zugenagelt
worden; ich weiß nicht und will nicht wissen, warum. Eine zur Rechten ist aus
den Angeln gehoben worden und lehnt hinter der Öffnung an der Mauer; demnach zu
urteilen, was ich von dem Grundstück dahinter erahnen kann, hat sich schon
lange niemand mehr um den vor Unkraut und dornigen Gestrüpp wuchernden Garten
gekümmert. Über der nächsten Tür, hinter der möglicherweise sogar jemand lebt,
glänzt eine 9 gülden von einer
Platte. Ich bin mir eigentlich recht sicher, bereits an einem Haus Nummer neun
vorbeigelaufen zu sein, aber die Ziffer dort war rot.
Vorgänger haben mit
weißer Kreide Botschaften auf den Mauern hinterlassen, noch weit unterhalb des
Waldes, den wir über uns schon lange erahnen. Ich hätte gewartet, bis ich
zwischen den Bäumen bin, bevor ich mich graffitierend verewige an diesem
exotischen Ort. Trotzdem besehe ich mich mit einem Lächeln, heraufbeschwört von
einer tiefen, zufriedenen Neugier, der Markierungen. Die meisten sagen mir
nichts, aber eine sticht mir ins Auge.
„Schau“, sage ich
zu Sebastien, und zeige darauf. „I plus S.“
„Haha, stimmt!“, stößt
er hervor.
Eine weitere Geschichte von Thomas Kodnar findet sich in Zwielicht 13.
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