Lisanne Surborg - Der Kopf auf dem Acker (Alles eine Frage des Stils)


Alles eine Frage des Stils
 ist im Frühjahr erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme.

Lisanne Surborg - Der Kopf auf dem Acker bietet eine sehr moderne Umsetzung des Horrorthemas, mischt es mit Science Fiction Motiven und packt den Leser mit einer subtilen Leidenschaft. Grund genug eine Leseprobe zu präsentieren, die vollständige Geschichte finde sich in Alles eine Frage des Stils:

Lisanne Surborg - Der Kopf auf dem Acker

  

1.

Auf dem Weg von der Scheune zu den Stallungen stolperte Julius über einen Kopf. Er schlug der Länge nach hin, und das harte Wummern des Technos auf seinen Ohren half ihm nicht bei der Orientierung.

Wenn die Wolken den Mond verhängten, war es um kurz nach fünf noch stockdunkel auf dem Hof. Die Hühner und Schweine schliefen, und sogar die Kühe meldeten frühestens um halb sechs Melkwünsche an. Er hatte den Verdacht, dass er aus reiner Schikane so früh zum Dienst antreten musste.

Julius war weich gelandet. Er stützte sich ungelenk mit der rechten Hand auf etwas Feuchtem ab und kam auf die Knie. Seine Linke riss die Kopfhörer von seinen Ohren, und der penetrante Beat erstarb. Er hatte Stille erwartet – aber der Kopf sprach.

„… total leid, ehrlich. Erst wollte ich eine Warnweste mitbringen oder diese Lichter fürs Fahrrad, aber die Weste hat nach Schimmel gestunken und meine Cousine wollte mir ihre Lampe nicht ausleihen. Und jetzt ist es passiert.“

Julius blinzelte. Er kniete auf einem Stück Acker, das heute nicht mehr bepflanzt wurde. Es war matschig und voll wildem Unkraut. In der schwarzen Fläche hundert Meter weiter erkannte Julius die Rückwand des Hühnerstalls. Langsam drehte er den Oberkörper, während über ihm die Wolken weiterzogen.

„Hi, ich bin Simon“, sagte der Kopf. Er reckte sich, weil Julius in seinem toten Winkel hockte. „Ist alles okay bei dir? Ich hab noch gerufen, aber du hast mich nicht gehört.“

Der Kopf spross aus dem Acker wie die Ähren aus dem Feld. Im schwachen Mondschein konnte Julius den Kehlkopf auf und ab hüpfen sehen. Schultern sah er keine.

Auf Knien kroch er langsam auf den Kopf zu. „Warum steckst du im Acker?“

Der Kopf lachte und warf sich in den Nacken. „Ah, ich hab mir gedacht, dass die Frage früher oder später aufkommen würde.“

Julius konnte ihm jetzt ins Gesicht sehen. Simon mochte ein, zwei Jahre älter sein als er. Allem Anschien nach war er ein pickliger Nerd mit zu dichten Augenbrauen – so wie Julius selbst. Aknenarben sorgten dafür, dass Simons Bartwuchs sich auf kleine Inseln in der Kraterlandschaft beschränkte.

Ein bisschen neidisch war Julius darauf schon. Er selbst entfernte sich täglich den entwürdigenden Flaum über der Oberlippe.

„Also, ich habe ein ziemlich anstrengendes Hautleiden.“ Simon verzog das Gesicht.

„Ich seh’s“, sagte Julius.

„Nein, nein. Also, ja, das auch. Aber ich meine die Neurodermitis. Die habe ich noch unter der Akne.“

„Und deshalb hast du dich im Matsch eingegraben?“

„Genau!“ Das Gesicht strahlte heller als der Mond.

„Ich glaube, ich verstehe hier was nicht.“ Julius zog ein Knie nach dem anderen aus dem Matsch und ging vor dem Kopf in die Hocke. Der Boden hatte eine eigenartige Konsistenz, wie die Haut auf selbstgekochtem Schokoladenpudding. Allerdings roch er ein wenig säuerlich.

„Hab ich erst auch nicht.“ Simon bedeutete ihm mit einer Bewegung seines Kinns, näher zu kommen. Dann schielte er in Richtung Hof. „Die Hühner!“

„Was ist mit denen?“ Julius konnte die Luft, die der Kopf ausstieß, auf seiner Stirn fühlen und rückte wieder ein Stück von ihm ab. Misstrauen erfasste ihn. Was trieb der Kopf hier mitten in der Nacht? Was, wenn er ein Ablenkungsmanöver war? Julius blickte über die Schulter zu den Feldern, die im Zwielicht dalagen. Er drehte sich wieder um und lauschte nach auffälligen Lauten vom Hof her, womöglich aus dem Hühnerstall. Aber alles, was er hörte, waren Simons nervöser Atem und der Beat, der leise aus seinen Kopfhörern rasselte.

Die Hühner des Rauerhofs waren eine regionale Sensation. Als Julius‘ Mutter ihm zum ersten Mal davon berichtet hatte, hatte er ihr maßlose Übertreibung vorgeworfen. Pralle, schneeweiße Hühner, deren Federn und Füße stärker glänzten als der Lack des neuen Traktors. Denen täglich fünf faustgroße Eier aus dem Körper ploppten, und die fröhlich gackernd über den Hof stolzierten.

„Also, es geht gar nicht direkt um die Hühner.“ Simon schien den Kopf zwischen die Schultern zu ziehen, was in seinem Fall aussah, als würde sein Hals tiefer in den Boden sinken. „Ich bin Veganer. Das heißt, dass ich keine Hühner und auch keine Eier esse.“

„Ich weiß, was das heißt.“

„Richtig, richtig. Meine Großeltern aber nicht. Die versuchen immer wieder, mir eure Eier unterzujubeln. Als Omelett, im Eierkuchen, einmal sogar roh im Saft.“

„Warum erzählst du mir das?“ Er hatte noch viel zu tun, bevor die Sonne aufging, und er wurde nicht dafür bezahlt, sich langweilige Storys von einem Kerl anzuhören, der gern im Matsch steckte. Eigentlich wurde er auch für alles andere nicht bezahlt.

„Die machen das nicht, um mich zu ärgern, sondern um mir zu helfen. Mein Opa schwört, dass sein Rheuma weg ist, seit er bei euch kauft. Und meine Oma sagt, ein Stück Streuselkuchen, und zack – fallen ihre Warzen ab. Heftig, oder? Ich find schon.“

Julius hatte genug gehört. Nichts davon erklärte, was der Typ hier im Matsch machte. Er war irgendein irrer Freak, der Spaß am Quatschen hatte. Wenn Frau Knollkinn ihn irgendwann entdeckte und zwang, sich selbst wieder auszugraben, würde Julius beteuern, nie über ihn gestolpert zu sein. Er drückte die Knie durch und stand auf.

„Warte, warte, warte!“ Der Kopf reckte das Kinn, um zu ihm aufblicken zu können. „Also, ich … ich hab die Hühner beobachtet. Irgendwas ist besonders an ihnen und ich habe herausgefunden, was!“

„Was?“, fragte Julius ungeduldig.

„Sie kommen hierher. Jeden Tag.

Sie schlafen, sie fressen, sie kacken und sie kommen hier her und suhlen sich im Schlamm.“

„Sie sind weiß und sauber.“

„Dann putzen sie sich eben, was weiß ich. Aber sie suhlen sich hier. Dafür kann es nur einen Grund geben: Die Hühner spüren, dass diese Matschgrube reiner Nährboden ist. Eine Energiequelle, wahrscheinlich einzigartig. Und ich fange auch schon an, es zu spüren!“ Der Junge sah erwartungsvoll zu ihm auf. Vielleicht rechnete er damit, dass Julius wieder auf die Knie fallen und das Gesicht in den Schlamm tunken würde.

„Ja“, sagte Julius gedehnt. „Ich muss jetzt den Stall fegen oder so.“ Er setzte die Kopfhörer wieder auf, der Rhythmus schluckte die Außenwelt. Mit einem langen Schritt stieg er am Kopf vorbei und betrat wieder festen Boden. 

Sollte Ihnen die Geschichte gefallen haben, würden wir uns über eine Stimme beim Vincent Preis freuen. Zur Wahl des Horrorpreises geht es hier: Vincent Preis 2020

Eine weitere Geschichte von Lisanne Surborg mit dem Titel Die Puppe mit dem blauen Kleid findet sich in Der letzte Turm vor dem Niemandsland.

Lesenswert ist auch der untypische Zombieroman Xoa.

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