Harald A. Weissen - Wolf…wer? (Zwielicht 14)
Die Liste der Kurzgeschichten, die 2020 erschiene ist, ist lang und daher stellen wir hier eine Lesprobe einer ganz besonderen Geschichte vor. Bei den Geschichten in Zwielicht 14 kam die Geschichte von Harald A. Weissen sehr gut an. Eine Werwolfgeschichte der anderen Art, die auch in Wolfsbrut nachgedruckt wurde. Grund genug eine Textprobe für den interessierten Leser zu veröffentlichen:
Anmerkung: Die folgenden Interviews (sowie Fotos und weitere auf Papier festgehaltene Informationen) fanden sich in der Wohnung der seit mehreren Monaten verschwundenen Journalistin Julia K. Meeren. Über den Verbleib der Vermissten ist weiterhin nichts bekannt, obwohl die Polizei den Spuren nachging, von denen Sie in der nächsten Stunde hören werden. Wir hoffen jedoch, dass die folgende Dokumentation Hilfe zur Aufklärung des rätselhaften Falls leisten wird. Mit Hinweisen wenden Sie sich bitte an die Zürcher Kantonspolizei. Das Produktionsteam von GreyArea Films und die Angehörigen von Julia K. Meeren danken für Ihre Aufmerksamkeit.
Eliska Veselá, 24, Augenzeugin, Videoaufnahme
Ich stand praktisch daneben und sah die ganze Schweine-rei. Ich sah sie und wünschte, ich hätte es nicht. Noch heute, fast ein halbes Jahr danach, vergeht keine Nacht, in der ich nicht von dem Mist träume. Wäre ich an diesem Abend doch nur zu Hause geblieben. All das Blut, dieser riesige Wolf, seine Verwandlung, der zerfetzte Körper des Opfers … Unfassbar, dass ein Mensch so schrecklich zugerichtet sein kann und noch immer lebt.
Ja, Sie haben mich schon richtig verstanden, er lebte noch. Für eine oder zwei Minuten, denke ich. In so einer Situati-on fühlt es sich an, als ob die Zeit plötzlich anders als gewöhnlich vergeht, also bin ich mir nicht sicher. Aber ja, da steckte tatsächlich noch ein Funken Leben in ihm. Seine Finger zuckten. Die ganze Zeit blinzelte er und schnappte wie ein Fisch an Land nach Luft. Dabei ver-zerrte sich sein Gesicht immer mehr, weil das, was er einatmete, die Lungen nicht mehr erreichte. Wegen der zerfetzten Kehle, verstehen Sie? Die Vorstellung, so zu sterben, ist furchtbar.
Ob er noch etwas sagte? Nein, kein Wort. Wie denn auch? Ich glaube, dass er nicht einmal bemerkte, dass ich in der Nähe stand. Falls er aber doch etwas von sich gab, ging es in all dem Lärm unter. Panisches Geschrei von anderen Leuten, das andauernde halb menschliche, halb tierische Knurren und Jaulen des Mörders nach seiner Verwand-lung, die gurgelnden Laute des Opfers, das Rattern eines vorbeifahrenden Zugs auf dem Viadukt. Und über allem das Flüstern des Windes. Ja, ich hörte den Wind, der die Blätter der Bäume auf der Josefwiese leise rascheln ließ. Bestimmt war da noch mehr los, aber alle Geräusche entfernten sich plötzlich von mir, wurden irgendwie hohl. Da wurde ich dann ohnmächtig und krachte mit dem Kopf an eine Sitzbank, die neben einem Weg steht, der über die Wiese führt. Sehen Sie hier, die Narbe über der linken Schläfe. Ein kleines Andenken an diesen Abend.
Gut, wie Sie meinen. Ich werde versuchen, den Ablauf des Angriffs der Reihe nach und so genau wie möglich zu erzählen.
Also. Ich war damals auf dem Weg zur Geburtstagsparty meiner Freundin Seraina. Weil das Wetter schön sommer-lich war, ging ich zu Fuß und nahm den Weg über die Josefwiese. Schon auf den ersten Metern, als ich sie von der Ottostrasse her betrat und in Richtung des Viadukts spazierte, bemerkte ich einen Schemen in der Dunkelheit zwischen den Bäumen, der mir folgte. Obwohl das Tier winselte und ein paarmal sogar knurrte, dachte ich mir nicht viel dabei. Streunende Hunde sind zwar eine Seltenheit in Zürich, aber hin und wieder sieht man sie eben doch. Und wenn sie hungrig sind, dann machen sie sich auch bemerkbar. Als das Tier näher kam, wurde mir aber auf einen Schlag klar, dass es sich um keinen Hund, sondern etwas ganz anderes handelte: einen Wolf. Einen echten Wolf!
Warum ich diesbezüglich so sicher bin? Das kann ich Ihnen sagen. In der Sekundarschule schrieb ich mal einen Aufsatz über Wölfe. Gab eine glatte 6 damals. Ich mag sie … Na ja, jetzt nicht mehr so. Aber wegen diesem Aufsatz erkenne ich Canis lupus, wenn ich ihm begegne, sogar im Dunkeln. Haltung, Körperbau und Bewegungsmuster sind sehr typisch, wenn man weiß, worauf man achten muss.
Als ich dort auf der Josefwiese begriff, was mir da folgte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Und wenn ich Angst sage, dann meine ich die Art von Angst, bei der sich der Magen zu einem harten Knoten zusammenzieht, die Knie zittern und man meint, man mache sich jeden Moment ins Höschen. Ein Wolf in Zürich? Echt jetzt? Dann hörte ich lautes Gelächter, der Wolf wandte sich von mir ab. Und plötzlich ging alles unglaublich schnell.
Da gibt es einige Steintische und -bänke auf der Josefwiese. Auf denen lagen drei junge Typen, tranken und hatten einfach eine gute Zeit. Sie alberten herum und lachten über irgendetwas, was wohl den Wolf auf sie aufmerksam machte. Er hob den Kopf ruckartig zum Vollmond und heulte ihn an. Danach gab er ein jämmerliches Winseln von sich und … die Verwandlung begann. Er legte sich auf die Seite, sein ganzer Körper begann unkontrolliert zu zucken. Knackende Geräusche waren zu hören, so als ob jeder einzelne Knochen in dem Tier zerbrochen würde. Seine Beine, sein Torso und der Schädel begannen sich zu verformen. Alles wurde größer und anders, er wurde weniger Wolf und mehr … mehr … Mensch. Das Fell fiel von ihm ab, während er, ein Mann, verkrümmt und um sich schlagend am Boden lag. Einen Moment lang erstarrte er, dann erhob er sich und stürzte brüllend und knurrend auf die drei Jungs auf dem Steintisch zu. Da wurde es dann richtig schlimm.
Zwei der Jungs sprangen weg, einer blieb auf dem Tisch liegen … Das war der, den der Wolfmann erwischte. Er biss ihm die halbe Kehle durch, riss ihm einen Arm aus und weidete ihn schließlich aus. An den Anblick der Gedärme und das spritzende Blut kann ich mich noch sehr gut erinnern. Danach wurde die Welt schwarz für mich.
Jonas Müller, 18, Augenzeuge und Freund des Opfers, Videoaufnahme
Heute geht es mir zur Abwechslung mal einigermaßen gut. Aber arbeiten kann ich noch nicht gehen. Wahrscheinlich muss ich die Lehre abbrechen oder ein Jahr wiederholen. Ist mir im Moment aber auch egal, wenn ich ehrlich bin. Ziemlich viel ist mir egal.
Hmm, stimmt. Das Video stammt von mir. War eigentlich bloß Zufall, dass ich das Handy gerade in der Hand hielt. Wir tranken Bier und schauten auf dieser App … sorry, ich habe den Namen davon vergessen … wir schauten, welche Mädels sich für mich interessierten und mich treffen wollten. Da hörte ich ein Heulen, das mir Gänse-haut über den Rücken jagte. Ich drehte mich um und begann zu filmen. Das war keine Absicht, bloß Reaktion. Ich handelte, ohne darüber nachzudenken. Und Sie wissen ja, was ich da auf meinem Handy aufnahm. Die Verwandlung. Als sie vorbei war und dieser brüllende Irre auf uns zugerannt kam und sich auf Oliver stürzte, sprang ich zur Seite, filmte dabei einfach weiter. Wenn ich den Film nicht gemacht und immer und immer wieder angeguckt hätte, würde ich nicht glauben, was damals geschah.
Diese Verwandlung … Sie war wie aus einem Werwolf-Film, nur umgekehrt. Vor einer Weile las ich im Tagesanzeiger einen Bericht, in dem es hieß, dass dieser Wolf nur an einem einzigen Tag im Monat zum Mensch wird. Bei Vollmond. Das heißt, er sieht wie ein Mensch aus, aber angeblich ist sein Wesen das eines wilden Tiers. Seine Zähne sollen länger sein und seine Hände sind Klauen. Total kaputt, die ganze Sache.
Mein Psychiater glaubte bei unserer ersten Sitzung nicht, was ich ihm erzählte. Na ja, er sagte es damals nicht, aber ich sah es ihm deutlich an. Ich weiß doch genau, wie bescheuert es klingt, wenn dir einer erzählt, dass er einen Werwolf gesehen hat, der den besten Freund zerfleischte. Trauma hier, Trauma da … Nimm noch eine von den bunten Pillen und beruhige dich wieder. Deine Imagination spielt dir einen Streich, bla, bla, bla. Als dann aber der Film in den Nachrichten gezeigt wurde und die Interviews mit Wissenschaftlern und Fachleuten sogar in ausländischen Zeitungen abgedruckt wurden, da begann er mir zu glauben. Seither hatten wir viele gute, aber auch aufwühlende Gespräche.
Manchmal wünsche ich mir, es wäre wie in einem Computerspiel möglich, einen alten Savestand des Lebens zu laden, um die Dinge anders zu machen. Aber das geht nicht, wir müssen mit dem Scheiß zurechtkommen, den uns das Leben vor die Füße wirft. Das ist nicht fair, vor allem wenn man das Opfer ist, aber aus irgendeinem Grund ist es halt so. Und wer weiß … Vielleicht ist das der Sinn des Lebens, nach dem alle so verbissen suchen.
Was man mit dem Werwolf machen sollte? Verdammt schwierige Frage für jemanden, der zum Psychiater geht und jedes Mal von Blut und Eingeweiden träumt, wenn er mal einschläft. Natürlich wäre es mir am liebsten, wenn man die elende Kreatur erschießen würde. Sie hat meinen besten Freund umgebracht. Das wäre also nur gerecht. Aber wenn ich ehrlich bin, tut mir der Werwolf auch leid. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich ausgesucht hat, so zu sein, wie er eben ist. Auf eine komische Art ist er auch nur ein Opfer von irgendwas. Einen Tiger sollte man doch auch nicht erschießen, bloß weil er ein Tiger ist und seiner ureigenen Natur nachgeht. Aber hören Sie, ich will jetzt nicht mehr mit Ihnen sprechen und über all das nachdenken. Lassen Sie mich bitte in Ruhe.
Peter Maierhans, 33, erster Polizist am Tatort, Videoaufnahme
Bevor wir beginnen, müssen Sie wissen, dass ich über gewisse Aspekte des Falls nicht sprechen darf. Was ich Ihnen erzählen werde, ist mein persönlicher Eindruck als Mensch, nicht als Mitarbeiter der Exekutive. Ist das für Sie in Ordnung?
Gut. Ich und meine Partnerin trafen als Erste am Tatort ein. Das muss etwa fünf oder sechs Minuten nach dem Funkspruch und sieben Minuten nach der eigentlichen Tat gewesen sein. Ich muss gestehen, dass ich so entsetzt vom Anblick der Leiche war, dass ich nicht mitbekam, wie meine Partnerin mit der Arbeit begann. Sie ist um einiges älter und erfahrener als ich, und auch abgebrühter. Unter Kollegen nennen wir sie scherzhaft „Bruce Willis“, wegen dem Film Die Hard. Dabei sieht man ihr Härte und Entschlossenheit gar nicht an. Während sie sofort damit begann, Augenzeugen zu befragen und Gaffer aufzufordern, sich gefälligst zu verpissen, kam ich nur langsam in Fahrt. Meine Beine fühlten sich wie Pudding an, als ich zurück zum Einsatzwagen eilte, um Absperrmaterial zu holen. Da bemerkte ich eine verstohlene Bewegung in der Dunkelheit zwischen den Bäumen, die die Wiese vom Viadukt abtrennen. Damals dachte ich mir nichts dabei, aber heute bin ich überzeugt, dass es der Werwolf war. Der Gedanke, dass er jederzeit hätte angreifen können, machte mir eine Weile zu schaffen, aber heute bin ich darüber hinweg.
Ob ich den Zustand der Leiche näher beschreiben kann? Klar, kann ich. Aber wollen Sie das wirklich hören? Das ist nichts für zarte Gemüter. Ja? Na gut, Ihre Entscheidung.
Mit dem Absperrmaterial ging ich zurück, um den Tatort zu sichern. Ein zweiter Wagen kam bereits mit Blaulicht angerast, und die Sirenen weiterer lärmten in der Nacht. Von der Einsatzleitung kamen erste Anweisungen über Funk. Und als einziger Ruhepol inmitten all der Hektik, dem aufgeregten Geschnatter der Gaffer, den Sirenen, dem Rattern eines Zugs, lag die Leiche von Oliver Grohntal auf dem Steintisch. Zögernd näherte ich mich dem Toten. All der Lärm wurde schwächer, entfernte sich mit jedem Schritt mehr und mehr. Beinahe fühlte es sich an, als ob ich in eine unsichtbare Blase der Stille eindrang, die das Opfer umgab. Plötzlich waren da nur noch ich und Oliver … oder was noch von ihm übrig war. Er lag da im bleichen Mondlicht, die Kleider in Fetzen, Brustkorb und Bauchdecke aufgerissen. Seine Eingeweide und Organe befanden sich nur noch zum Teil in seinem Körper. Das meiste davon lag auf dem Tisch oder in der näheren Umgebung. Sein Gesicht war vom Haaransatz bis zum Kinn durch tiefe Risse wie von einer Klaue zerstört. Nase und Lippen hingen auf groteske Weise an der Ruine, die noch übrig war. Ein Arm war Oliver gänzlich vom Torso gerissen worden und lag mit verkrümmten Fingern zwei Meter neben dem Tisch im frisch gemähten Rasen. Das meiste Fleisch der Oberschenkel musste vom Wolf verschlungen worden sein, denn ich sah Knochen, Sehnen und Stücke abgerissener Muskeln. Und über allem Blut, literweise Blut, ein in Rot gemalter Albtraum.
Ich stand da und starrte … Keine Ahnung wie lange, aber es können nur Sekunden gewesen sein. Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten. Sie müssen verstehen, dass man so etwas kaum zu sehen bekommt. Diese Form von Verbrechen ist wirklich selten. Auch wenn Thriller und Krimis suggerieren, dass ein Gemetzel wie dieses zum Alltag eines Polizisten gehört. Das ist totaler Quatsch. Auf jeden Fall drang meine Partnerin irgendwann in die Blase der Stille ein und meinte, ich solle der Forensik Platz machen. Also machte ich das, tat meinen Job, wie es von mir verlangt wurde. Und als wir mal ein paar Minuten nichts zu tun hatten, kotzte ich in ein Gebüsch.
Ob mich dieser Mordfall verändert hat? Oh ja, natürlich hat er das. Da wäre zum einen die irre Tatsache, dass es tatsächlich Werwölfe gibt. Wenn es die gibt, dann könnten auch andere Kreaturen die Nacht unsicher machen. Mein Weltbild ist mächtig ins Wanken geraten. Ich dachte vor, während und nach meiner Ausbildung zum Polizisten, dass ich genau weiß, was auf mich zukommt. Jetzt tue ich das nicht mehr. Ich fühle mich ein wenig wie im freien Fall, finde keinen Halt. Und dafür mache ich diese Kreatur verantwortlich.
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