Silke Brandt – Der vierte apokalyptische Reiter (Zwielicht 15)

Zwielicht 15 ist im Dezember erschienen und steht zur Wahl beim Vincent Preis 2020

Die Liste der Kurzgeschichten ist lang und gerade dort zählt jede Stimme.

Silke Brandt – Der vierte apokalyptische Reiter besticht nicht nur durch intensive Recherche und einem ausführlichen Anhang zu den Hintergründen der Geschichte. Aber lesen Sie selbst, die vollständige Geschichte kann in Zwielicht 15 nachgelesen werden:

Und als es das zweite Siegel geöffnet, hörte ich das zweite Wesen sagen: Komm und siehe! Und ein anderes Ross zog aus, feuerrot, und dem, der darauf saß, wurde verliehen, den Frieden von der Erde wegzunehmen, und sie einander morden zu lassen, und es ward ihm ein großes Schwert gegeben.

          

Wenn ich an jenen schicksalshaften Tag zurückdenke, der mich für den Rest meines Lebens mit Reue erfüllen sollte, ist mir stets, als hätte ich das Unheil erahnen müssen, die Anzeichen nicht als Hirngespinste abtun dürfen. Jener Tag hatte mit Sonnenschein begonnen, doch gegen Mittag legte sich dichter Nebel über die weitläufigen Gartenanlagen. Mit ihm kam eine eigentümliche Kühle, sodass ich mich ins Arbeitszimmer zurückzog. Das Licht, das vom einzigen Fenster auf meinen Sekretär fiel, wurde immer schwächer, und so klingelte ich nach dem Butler, damit er die Kerzen entzünde. Obwohl ich für gewöhnlich dem Wetter keine Bedeutung zumaß, fand ich nur schwer die nötige Konzentration für meine Korrespondenz, ertappte mich mehrmals dabei, müßig aus dem Fenster zu blicken. Die Szenerie – ein alter Baumbestand durchbrochen von freien Grasflächen und halb verborgen hinter der fahlen Nebelwand – tat das ihrige, meine Fantasie zu befeuern. Ich gedachte der verräterischen Sümpfe in jenem alten Land südwestlich der Memel, in deren Pestschwaden ganze Heereszüge untergegangen, von falschen Spähern in die Irre geleitet und in den Tod geführt. Nun gebar der Nebel dort draußen lebendig erscheinende Phantasmagorien, und bald meinte ich, ein Kampfesgeschehen zu beobachten, wobei sich die eine Seite durch das schwarze Kreuz des Deutschen Ritterordens auf der Brust der Reiter und den Flanken ihrer Pferde zu erkennen gab. Die Berittenen, gegen einen verborgenen Gegner kämpfend, traten für kurze Momente aus dem Nebel hervor, um gleich darauf wieder von ihm verschluckt zu werden.

 

Sobald ich mir meiner Säumigkeit bewusst ward, schalt ich mich einen Narren, solch überkommenen Bubenfantasien nachzugeben, doch war ich außerstande, mich mit dem üblichen Eifer meinen Aufgaben zu widmen. Schließlich riss mich Hufgeklapper aus dem Grübeln, und als ich mich noch ob des unmäßigen Tempos wunderte, in dem die Kutschpferde durch den Nebel getrieben wurden, erklang von unten die Türglocke. Kurz darauf klopfte mein treuer Butler Teitkins an die Türe und überreichte mir einen Brief aus Büttenpapier. Der Überbringer sei von seinem Herren angewiesen, unten auf meine Antwort zu warten. Ich gebot Teitkins, mich allein zu lassen, bevor ich das Siegel erbrach und die Zeilen las. Die Nachricht war von einem gewissen Augustinas Tereškinas, dessen Name litauische Herkunft verriet. Seine schwungvolle Handschrift war leicht nach rechts geneigt, was auf einen willensstarken, durchsetzungsfähigen Charakter schließen ließ.

„Verehrter Professor Islington“, las ich, „Ihr möget meine Dreistigkeit verzeihen, mit der ich um Eure Hilfe ersuche, denn die unbotmäßig erscheinende Eile, mit der ich Euren Sachverstand erbitte, ist einer Dringlichkeit geschuldet, zu der ich mich nur unter vier Augen erklären kann.“ Mit wachsendem Interesse entnahm ich den Zeilen, dass Tereškinas die verfluchten Sumpfgebiete des alten Memellandes durchreist und in der Burg zu K. einen bedeutungsvollen Fund gemacht habe. Da ich mich für einige Jahre eingehend mit dieser Region beschäftigt hatte, erhoffte er nun meine Hilfe bei der Authentifizierung eines geheimnisvollen historischen Schriftstückes. Von diesem Forschungsgebiet hatte ich mich schon lange abgewandt, da die Quellenlage extensive Rückschlüsse unmöglich machte. Auch zog ich es inzwischen vor, mich weniger aberglaubenbehafteten, blutrünstigen Epochen zu widmen. Doch mit der Erwähnung der Festung zu K., die nur allzu gut zu meinen morgendlichen Phantasmen passte, erwachte in mir der alte Entdeckergeist. Und es bedurfte nicht einmal einer Reise in die Düsternis des Baltikums, sondern der Gegenstand des Interesses befand sich keine Tagesreise entfernt!

 


Sollte Ihnen die Geschichte gefallen haben, würden wir uns über eine Stimme beim Vincent Preis freuen. Zur Wahl des Horrorpreises geht es hier: Vincent Preis 2020.

Eine weitere Geschichte von Silke Brandt mit dem Titel Schwarzer Schnee in Norilsk findet sich in Zwielicht Classic 15.

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