Paulas neuer Freund
Ein Haufen Geschichten haben sich im Laufe der Zeit angesammelt. Geschichten verschiedenster Genres, verschiedenster Art. Zeit genug, die Geschichten Stück für Stück zu präsentieren:
Paulas neuer Freund (aus Nebelmelodie, Zwielicht Classic 15)
Das Licht fiel durch das Oberglas und breitete sich wie ein schwerer Vorhang durch die Kuppel. Unzählige Staubpartikel tanzten im Widerschein. Der dumpfe Ton klang auf, nahm an Intensität zu, um daraufhin langsam und stetig zu verklingen.
Einen weiteren Schlag auf den Gong, erneut schwillt der Ton an, um scheinbar ewig zu verklingen.
Ich sah ihr in das vor Glück leuchtende Gesicht, während sie dem Einmarsch des Priesters folgte. Ihre kleinen Grübchen zuckten vor Entzückung. Ihre grünen Augen spiegelten sich in dem Sonnenlicht und drückten reine Freude aus. Ihr schmales, knochiges Gesicht wirkte wie modelliert und schien einzig für diesen Moment erschaffen.
Mühsam löste ich mich von ihrem bezaubernden Anblick und folgte ebenfalls dem Einmarsch des Priesters. Dieser war groß und schlank, die schwere Robe reichte bis auf den Boden herunter und war aus einem schweren, edlen Garn. Rot wie Wein war sie und sein blondes Haar stach hervor wie die Flamme eines Streichholzes.
In schöner Regelmäßigkeit wiederholte sich der Gong, das An- und Abschwellen des Tons, bis der Priester seine Kanzel erreichte.
Er schob sich dahinter, rückte seine Robe zurecht und schaute die Gemeinde erwartungsvoll an. Der Ton verklang und machte einer gespannten Stille Platz. Niemand sprach, denn alle waren in froher Erwartung der Worte, die da kommen würden.
„Liebe Gemeinde!“, erklang die sonore Stimme. „Schlimme Zeiten sind es, denen wir entgegen sehen. Wirklich schlimme Zeiten. Doch die Seelen unserer Mitbürger sind noch nicht rettungslos verloren. Sie sind verwirrt, beschreiten die falschen Pfade, sind aber noch lange nicht vollständig vom Weg abgekommen. Ja, liebe Gemeinde. Spürt auch ihr den Drang, den rechten Weg zu verlassen? Die innere Unruhe, die allgegenwärtige Hetze, die langsam, aber unabänderlich, an der richtigen Einstellung nagt, sie aushöhlt und brüchig macht?
Kämpft dagegen an! Kämpft!
Der richtige Weg ist das brennende Fanal, dem ihr gerade in diesen schwierigen Zeiten folgen sollt, folgen müsst. Das brennende Fanal des Glaubens, das in euch lodert als Fackel der Erleuchtung.
Wir sind es, die auf dem richtigen Weg sind. Also misstraut denen, die euch davon abbringen wollen. Misstraut denen, die selbstgefällig den einzig wahren Weg predigen.
Hier!“, schrie er förmlich und zog eine Pistole aus seiner Robe. Ein schwerer Trommelrevolver, dessen schwarzes Metall im Widerschein des Sonnenlichts aufblitzte. „Das ist die Sprache der Straße. Das ist ihr Götze, dem sie folgen und der ihnen Legitimation verleiht. Antwortet ihr auf eure Weise, so wie ihr es gelernt habt.“
Der Priester hatte sich jetzt in Rage geredet und die Worte sprudelten förmlich aus ihm heraus, wiederholten sich im Thema, während seine Erregung sichtlich wuchs. Er schrie und fuchtelte, während ich meinen Engel betrachtete, der völlig gefangen an den Lippen des Priesters hing. Mit einer gedankenlosen Geste strich sie sich ihr braunes Haar aus dem Gesicht und rief im Kanon mit der Menge: „Ja, wir wollen!“.
Und auch ich rief: „Ja, wir wollen!“
„So ist es an der Zeit, aufzustehen und Farbe zu erkennen“, antwortete der Priester der Menge. „Steht auf und verbreitet den Glauben!“
Auch ich stand auf und rief: „Wir sind bereit!“
Er fuchtelte erneut mit dem Revolver und predigte weiter: „Haltet sie auf, die Prediger des Hasses, die Zwietracht in unsere Gesellschaft bringen. Haltet sie auf und legt ihnen das Handwerk. Jeder von euch muss bereit sein, bis zur letzten Konsequenz den richtigen Weg zu beschreiten und auch alle anderen auf den richtigen Weg zu führen.
Seid ihr bereit?“
„Wir sind bereit!“
„Dann geht jetzt und tragt die Flamme unseres Glaubens in die Welt hinaus.“
Erneut erklang der Gong, doch nur ein einziges Mal, dann war die Messe beendet und die Gemeindemitglieder verließen die Kuppel, Glückseligkeit in sich tragend und Mut in ihren Herzen.
Schnell begab ich mich in ihre Nähe und folgte ihr auf dem Weg nach draußen.
„Hallo Paula“, sprach ich sie an und ihr weiches Lächeln durchdrang mich mit Glückseligkeit. „Lust und Zeit noch etwas trinken zu gehen?“
Ein dunkler Schatten bemächtigte sich ihrer, doch er verschwand schnell. „Ja, Richard, ich glaube, das ist eine sehr gute Idee. Lass uns zum Charlies gehen, da können wir auch gleich einen Happen zu uns nehmen.“
Erstveröffentlichung Februar 2016
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