Oststadt
Die regennasse Straße spiegelte das Licht der Straßenlaternen.
Seine Schritte klangen hohl, hallten wider in der Tiefe der Häuserschluchten.
Die Nacht war kalt, der Himmel bedeckt, ein leichter Westwind zerrte an seinem
Mantel und ließ ihn frösteln. Er schaute hinauf, die nicht enden wollende
Betonfassade entlang, und musterte das imposante Bauwerk. Bestimmt
fünfunddreißig Stockwerke hoch überragte der zweckmäßige Büroturm alle Häuser
um sich herum um ein Vielfaches. Man musste weit schauen, bis ein ähnliches
Gebäude auftauchte. Die Familien verspürten keinerlei Neigung, sich nahe auf
den Pelz zu rücken. Er konnte dies nur zu gut verstehen. In den oberen
Stockwerken brannte Licht. Die Rosenbergs waren immer noch wach, immer noch
geschäftig. Nicht von ungefähr hatten sie die Stellung, den Erfolg erreicht,
der sie sowohl berühmt als auch berüchtigt gemacht hatte. Bedingungsloser
Einsatz, der vor nichts zurückschreckte.
Ein brennender Schmerz breitete sich in seiner Brust
aus. War sie auch dort oben?
Er wandte sich ab, ließ das Rosenberghaus hinter sich
liegen und stapfte durch Pfützen voll brackigem Wasser die Straßen hinunter.
Oststadts Popanz zog ihn an und stieß ihn gleichzeitig ab, eine unheilige
Allianz der Gegensätze, die in seinem Innersten nagte. Er verfluchte die
Eingebung, die ihn hierhin geführt hatte. Hier, mitten in die hohen Betontürme
des Mendelssohnschen Platzes, zurück zu einer Vergangenheit, die er glaubte,
hinter sich gelassen zu haben, die er verdrängt hatte in eine Schublade seines
Gehirns, die im Dachboden seines Gedächtnisses lag.
Zum wiederholten Male verfluchte er die Kälte, die
seit seiner Ankunft die Stadt in ihrem eisigen Griff hielt. Und ebenso
verfluchte er, jemals wieder nach Silbermond zurückgekehrt zu sein. In die
Stadt, der er geschworen hatte, für immer fernzubleiben. Er war wieder hier.
Seine Flucht lag drei Jahre zurück, aber es erschien ihm wie gestern.
Pulverdampf hing schwer in der Luft. Er war immer noch
taub vom Knall des letzten Schusses. Er kauerte sich noch tiefer hinter den
Tisch, den er umgeworfen hatte, um dahinter Schutz zu finden. Sein Atem ging
schwer und schnell und Panik stieg in ihm auf. Er konzentrierte sich, atmete
tief ein und aus, beruhigte sich langsam. Neben ihm lag Phönix, dahin gestreckt
von drei Schüssen, höchstwahrscheinlich tot.
Auf der anderen Seite des Tisches lauerte das
Rosenbergsche Todeskommando.
Er schätzte sie waren zu dritt. Sie befanden sich in der besseren Position und warteten genüsslich, während er sich die Hosen vollmachte. Er konnte förmlich das spöttische Grinsen von Lucard vor sich sehen.
„Schwarzer Luchs“, rief dieser. „Das Spiel ist aus.
Phönix ist aus dem Spiel und wir geben dir eine Chance. Schmeiß´ deine Kanone
weg und verlass’ die Stadt. Komm´ nie wieder zurück. Oder bleib´ und stirb.
Letzteres garantier’ ich dir.“
Die Stimme drang laut und schneidend durch den Raum,
traf ihn Mitten im Mark. Mit dem Rücken zur Wand schätzte er seine Chancen ab.
Die drei Revolvermänner waren strategisch klug im Raum verteilt. Seine Waffe
hatte noch exakt fünf Schuss. Lucard konnte ihn jederzeit töten. Marlene war
der Grund für seine Lage und Marlene war es auch, die ihm eine letzte
Überlebenschance sicherte. Lucard würde es sich gut überlegen, ob er den
Geliebten von Marlene Rosenberg über den Haufen schoss. Das würde Ärger geben.
Aber er, der berühmte Schwarze Luchs, musste weg aus
der Stadt. Ja, es hatte etwas länger gedauert, bis ihm das bewusst geworden war.
Aber jetzt hatte er die Zeichen der Zeit erkannt. Er war den Rosenbergs ein
Dorn im Auge, einfach der falsche Geliebte. Wie konnte er nur so doof sein und
sich ausgerechnet in die Tochter seines Chefs verlieben. Die Rosenbergs
steckten hinter diesem feigen Hinterhalt, daran bestand kein Zweifel. Und sein
Freund Phönix musste über die Klinge springen. An dessen Tod trug er die
Schuld. Es wurde Zeit, dass er Vernunft annahm. Es wurde Zeit, der Stadt den
Rücken zu kehren.
Ach Marlene. Mein Herz blutet, aber ich habe keine
andere Wahl. Wirst du mir jemals verzeihen?
Er richtete sich langsam auf, die schwere Pistole
glitt ihm aus der linken Hand und knallte auf den Boden.
„Ich bin einverstanden, Lucard. Ich gehe. Aber glaube
mir, wir sehen uns wieder. Und beim nächsten Mal wirst du für all dies büßen.“
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